"Vor allem sind wir da, um den Menschen ein offenes Ohr zu schenken", sagt Petra Birkert. Die 46jährige Diplom-Psychologin arbeitet seit über 10 Jahren in familientherapeutischen Beratungsstellen und ist seit Mai 2010 auch als Mitarbeiterin bei der Missbrauchshotline im Einsatz. Mindestens 300 therapeutische Beratungsstunden muss man vorweisen und eine spezielle Weiterbildung absolvieren, um bei der Telefon-Beratung mitarbeiten zu können. Drei Mal im Monat sitzt Birkert je sechs Stunden am Telefon, versucht, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Anrufer einzugehen, Vertrauen aufzubauen, die Menschen sprechen zu lassen.
An welchem Ort die staatlichen Telefonseelsorger sitzen, ist nicht bekannt - aus Gründen der Anonymität und des Schutzes der Mitarbeiter. Immerhin geht es um menschliche Schicksale, um den perfiden Missbrauch von Vertrauensverhältnissen, um schwerwiegende Straftaten von Verantwortungs- und Würdenträgern, um Angst und Verzweiflung und schließlich um eine Mauer des Schweigens und der Vertuschung, die endlich gebrochen wird.
Täglich 40 bis 60 Anrufe
Allein im ersten Jahr nach der Gründung der telefonischen Anlaufstelle des "Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs", wie es etwas umständlich heißt, haben die Seelsorger über 11.000 Anrufe entgegen genommen. Bis heute wird die Hotline täglich zwischen 40- und 60-mal angerufen. Die Sensibilität und Aufmerksamkeit gegenüber Missbrauch im Familienumfeld, im Sportverein, in der Kirchengemeinde oder im Ferienlager hat nach den Skandalen in kirchlichen und Erziehungseinrichtungen nachhaltig zugenommen. So auch die Bereitschaft der Opfer, sich endlich jemandem anzuvertrauen und das vermeintliche "Geheimnis" zu lüften.
[listbox:title=Mehr im Netz[Die Nummer der Missbrauchshotline ist 0800/225 55 30.##Die Webseite der Missbrauchshotline der Bundesregierung]]
"Das Telefon erleichtert die erste Öffnung", meint Birkert. "Bei uns geschieht alles in absoluter Anonymität. Selbst wenn Anrufer darauf bestehen, ihren Namen zu nennen, wird er nicht notiert. Das gehört zu unserer Professionalität. Die Anrufer haben allerdings ein Recht darauf, zu erfahren, welchen beruflichen Hintergrund der Berater hat." Gespräche zwischen Anrufern und einem bestimmten Seelsorger bleiben stets ein Einzelfall - es soll Vertrauen, aber nicht zu viel individuelle persönliche Nähe aufgebaut werden. So können die Seelsorger den weiteren Verlauf der Missbrauchssituation oder der traumatischen Belastung nicht weiterverfolgen.
Etwa fünf Gespräche führt Petra Birkert an einem Tag, deren Länge zwischen 20 Minuten und zwei Stunden variiert. "Mancher möchte über seine konkreten Missbrauchserfahrungen sprechen, anderen helfen wir mit Ansprechpartnern für eine psychotherapeutische Behandlung, oder wir geben Informationen, wie man sich konkret gegen eine Missbrauchssituation zur Wehr setzt", sagt Birkert, die selbst Mutter eines jugendlichen Kindes ist. Auch Anrufe von Tätern, die ankündigen, sich auch in Zukunft an Kindern zu vergehen, hat es schon gegeben. Oder Menschen, die sich ein schlechten Spaß erlauben und die Psychologen am Telefon mit Anzüglichkeiten provozieren wollen - auch das lernt ein Telefonseelsorger bei seiner Arbeit kennen.
"Es gibt keine Geschichte, die es nicht gibt"
"Ein echter Scherz entlarvt sich spätestens nach drei Minuten", sagt Birkerts Kollege Jean-Baptiste Rossilhol. "Manche Geschichten sind offenbar nur halb wahr oder werden verworren erzählt, aber auch dann ist es besonders wichtig, den Menschen Glauben zu schenken. Das zentrale Thema für die Opfer ist es, dass man ihnen zuhört", sagt der diplomierte Verhaltens- und Familientherapeut.
Die Telefonseelsorger haben keine Interventionskompetenz und keinen therapeutischen Auftrag, sondern sollen den Betroffenen vor allem dabei helfen, das Schweigen zu brechen, sich mit ihren traumatischen Erfahrungen auseinanderzusetzen oder sich aus einer aktuellen Missbrauchssituation zu befreien. "Täter sind Profis", betont Rossilhol. "Wer sich öffnet, meint oft, einen Vertrauensbruch gegenüber dem Täter zu begehen." Die Täter wenden nicht immer Gewalt an, sondern beherrschen das Opfer und sein Umfeld oft so stark, dass niemand darüber zu sprechen wagt, was er oder sie eigentlich weiß.
"Wenn es um sexuellen Missbrauch geht, gibt es keine Geschichte, die es nicht gibt", sagt Rossilhol. Er berichtet von einem 13jährigen Mädchen, das von ihrem Vater missbraucht wurde. Als sie sich einem Pfarrer anvertraute, hat auch dieser sie missbraucht. Die Familie bleibt dabei der Ort, an dem Kinder der größten Gefahr ausgesetzt sind, im übrigen Drittel liegt unter den sogenannten Täter-Institutionen die Katholische Kirche an der Spitze. Mehr als vierzig Prozent der Täter stammen aus diesen beiden Gruppen, gefolgt von der evangelischen Kirche, den Kliniken und Arztpraxen sowie den Vereinen und Sportclubs.
"Mein Bild von der Kirche und auch von Sportvereinen hat gelitten", gesteht Petra Birkert. "Es bewegt und beeindruckt mich tief, von Betroffenen zu hören, was ihnen in diesen Einrichtungen passiert ist und mit welchen Vertuschungsmanövern durch die Institutionen sie konfrontiert waren und teilweise heute noch sind."
Manche Anrufer klagen über kirchliche Seelsorge
Die Arbeit der kirchlichen Beratungsstellen und Telefonseelsorger sehen Rossilhol und Birkert kritisch. "In diesen Gesprächen stehen immer Fragen der Moral, des Vergebens, des Vertrauens und andere religiöse Aspekte im Vordergrund. Wir haben durchaus Anrufer, die sich über die kirchlichen Beratungsstellen beschweren, weil dort stets abgewogen wird zwischen Gnade, Frieden, Vergebung und sogar der Beteiligung des Opfers", berichtet Rossilhol aufgebracht: "Wenn ein kirchlicher Würdenträger einen Achtjährigen missbraucht, wem soll der Junge das erzählen, wenn die nächsthöhere Instanz Gott ist?"
Bei sechs Stunden Beratung an einem Tag bleibt den staatlichen Telefonseelsorgern eine halbe Stunde Pause zur Entspannung und zur Dokumentation der Gespräche. "Über manches Gespräch oder eine besonders verstörende Geschichte denkt man natürlich weiter nach, es beschäftigt einen", berichtet Birkert. Einmal im Monat nehmen die Psychologen selbst an einer Supervision teil, bei der über die letzten Beratungen gesprochen und Erfahrungen ausgetauscht werden. "Schutzmechanismen gehören natürlich zu unserem Beruf."
Wer sich kontinuierlich mit Missbrauchsfällen befasst, der entwickelt notgedrungen eine besondere Sensibilität im eigenen Alltag, auch für die eigenen Kinder. "Neulich war ich mit meiner Frau und meinem fünfjährigen Sohn essen", erzählt Jean-Baptiste Rossilhol. "Der Restaurant-Betreiber war auffällig nett zu meinem Sohn, ist fast nicht mehr von seiner Seite gewichen. Am Ende stellte ich fest, dass meinem Jungen eine Visitenkarte des Restaurants zugesteckt worden war und der Betreiber ihn ermuntert hatte, mal vorbeizuschauen. Ein Fünfjähriger! Das war eine klare Sache!"
Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist in Berlin.