76 Prozent der Hessen finden es gut, dass es die Kirchen als soziale Instanzen, als "kulturelle Anreger" und als Arbeitgeber gibt. Als Sinnstifterinnen werden sie dagegen kaum wahrgenommen. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Zentrums für kirchliche Sozialforschung Freiburg im Auftrag des Hessischen Rundfunks hervor, die am Dienstagabend bei der Aufzeichnung der 1.000. Sendung des Magazins "Horizonte" vorgestellt wurde. Dazu waren 500 Telefoninterviews geführt worden.
Der Studie "Was glauben die Hessen?" zufolge glauben 80 Prozent der Menschen zwischen Bad Karlshafen und Neckarsteinach, dass das Leben "nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm selber einen Sinn gibt". Sie glauben etwa an Wunder (70 Prozent), daran, dass Tiere eine Seele haben (66 Prozent), an Engel (40 Prozent) - und zum Teil auch daran, dass Menschen Gedanken lesen können (37 Prozent). An einen personifizierten Gott glauben aber nur 49 Prozent der Befragten. Trotzdem glauben zugleich 73 Prozent, "dass es hinter oder über unserem normalen Leben ein Geheimnis gibt".
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Das religiös-spirituelle Potenzial in Hessen ist somit vergleichsweise groß, ohne dass allerdings die Kirchen davon profitieren können. Nur 24 Prozent der Hessen würden nach den Kriterien der Befragung als "Christen" eingestuft - das gilt auch für die Kirchenmitglieder: Jeder dritte Protestant und jeder fünfte Katholik in Hessen glaubt nicht daran, "dass sich Gott in Jesus zu erkennen geben hat". Zehn Prozent der Katholiken und 15 Prozent der Protestanten fallen sogar in die Kategorie "Atheisten": Sie sind von der Existenz eines Gottes nicht überzeugt, auch nicht von der Existenz von Engeln, und verneinen Gott als Schöpfer ebenso wie einen Gott, der sich in Jesus zu erkennen gegeben hat.
Gut, dass es die Kirche gibt, aber jede Religion hat einen wahren Kern
Die Ergebnisse ließen den Schluss zu, dass die Hessen Religion als etwas ganz Individuelles und Privates begriffen und sich ihren Glauben selbst zusammenstellten, kommentierte der Leiter der Studie, der Religionssoziologe Michael Ebertz. "Die Hessen basteln sich ihren eigenen Patchwork-Glauben, die Religionsfreiheit hat sich durchgesetzt." Die Kirchenmitglieder seien auch keine Missionare, ergänzte Ebertz. Denn nur 17 Prozent der Katholiken und 13 Prozent der Protestanten hätten der Aussage "Ich versuche möglichst viele Menschen für meine Religion zu gewinnen" zugestimmt, im Gegenzug lehnen 80 Prozent der Hessen die Aussage ab, "dass in religiösen Fragen vor allem meine eigene Religion Recht hat und andere Religionen eher Unrecht haben".
Ein Traditionsbruch zeichnet sich speziell im Christentum ab. Es sei für viele Menschen nicht mehr spannend, in der Kirche zu sein, weil die großen Gemeinschaftserlebnisse fehlten, sagte Ebertz. Die Studie zeigt auch, dass die Kirchen nur ein Anbieter auf dem Markt der Sinnangebote ist: Obwohl 76 Prozent der Hessen, darunter nicht nur Christen, sondern auch Muslime, es gut finden, dass es die Kirchen gibt, weisen fast ebenso viele (72 Prozent) darauf hin, dass die Kirchen auf Fragen, die die Hessen wirklich bewegen, keine oder nur hin und wieder eine Antwort haben. 70 Prozent der Befragten glauben, dass in jeder Religion ein wahrer Kern zu finden ist.
Der Gottesdienstbesuch am Heiligen Abend zeige allerdings, dass die Kirchen noch immer als Experten für das Transzendente, das Überschreiten von der irdischen zur himmlischen Welt, angesehen würden, kommentiert Religionssoziologe Ebertz. "Sie sind aber nicht mehr alleine dafür zuständig."
Kirchenpräsident Jung: Stärker nachdenken
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung und der katholische Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst zeigten sich überrascht über die hohe Akzeptanz der Kirchen bei den Hessen. Sie bezweifelten allerdings, dass die Menschen die christliche Botschaft nicht mehr als wichtig für ihr Leben erachteten. Die Kirche reagiere mit besonderen Veranstaltungen auf die Bedürfnisse der Menschen, etwa indem sie sich auf Hessentagen und an Landesgartenschauen beteilige, sagte Jung. Er räumte aber auch ein, dass sie stärker über ihre Inhalte und ihre Sprache nachdenken sowie ihre Ansichten mitunter "aggressiver" in die gesellschaftliche Debatte einbringen müsse.
Tebartz-van Elst rief die Kirchenmitglieder auf, "missionarischer zu werden", mit persönlichen Zeugnissen für den christlichen Glauben zu werben und die persönliche Beziehung zu Jesus Christus wieder in den Mittelpunkt ihres Lebens zu rücken. Er warnte allerdings davor, "das Sperrige" des christlichen Glaubens wie die Kreuzestheologie zu verwässern.
Die 1000. "Horizonte"-Sendung, die sich mit der Studie befasst, ist übrigens am Mittwoch, 25. Januar, von 23.15 bis 0.15 Uhr im Hessischen Rundfunk zu sehen. Die erste "Horizonte"-Sendung war am 2. Februar 1975 ausgestrahlt worden, seit 1986 moderiert Meinhard Schmidt-Degenhard die Sendung.