Zeitzeuge: "Auf diesem Boden schwebte ich zwischen Leben und Tod"
Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die aus eigenem Zeugnis heraus den Terror des NS-Regimes beschreiben können. Sie alle sind schon sehr alt. So wie der 87-jährige Russe Dmitri Lomonossow, der von den Nazis fast in den Tod getrieben wurde.

Mit ernstem Gesicht schaut sich Dmitri Lomonossow bei einem Besuch auf dem Gelände des ehemaligen NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers im niedersächsischen Sandbostel um. Vor 67 Jahren brachten ihn die Nazis in diese damals unwirtliche und fast baumlose Moorgegend mitten in der norddeutschen Tiefebene bei Bremen. "Ich war fast tot und wog 26 Kilo, als ich hier ankam", erinnert sich der heute 87-Jährige, der in Moskau lebt. Er gehört zu den Überlebenden des Lagers, das am 29. April 1945 von britischen Soldaten befreit wurde.

[listbox:title=Stichwort: Holocaust-Gedenktag[Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog proklamiert und auf den 27. Januar festgelegt. An diesem Tag war 1945 das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit worden.##Die Vereinten Nationen riefen 2005 den 27. Januar als "Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust" (International Day of Commemoration to honour the victims of the Holocaust) aus. Seit 2006 wird er weltweit begangen. Der Bundestag kommt an diesem Gedenktag alljährlich zu einem Staatsakt zusammen, an dem alle Spitzen der Verfassungsorgane teilnehmen.##Der Begriff "Holocaust" leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet "Brandopfer". Er wird heute vor allem für den systematischen Völkermord an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten verwendet. Bis zum Kriegsende wurden rund sechs Millionen Juden ermordet.]]

Seine Mahnung, den Frieden zu bewahren, spielt nicht nur am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, eine Rolle. Im Internet und in vielen Gesprächen mit Jugendlichen erinnert Lomonossow das ganze Jahr über unermüdlich an Sandbostel, das zu den größten Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht zählte. Es wurde 1939 von polnischen Kriegsgefangenen für 15.000 Menschen gebaut. Doch zeitweise waren hier mehr als 70.000 Gefangene gleichzeitig eingepfercht.

Leichen, Seuchen, Durst und Hunger

"Zwischen 1939 und 1945 waren etwa 600.000 Menschen aus mehr als 70 Nationen interniert", sagt Andreas Ehresmann, Leiter der Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel. Heute ist das ehemalige "Stalag X-B" ein Ort der Erinnerung: 25 Gebäude sind noch erhalten und bilden ein bundesweit einzigartiges Ensemble historischer Bauten aus der Kriegszeit. Elf davon gehören der Stiftung Lager Sandbostel. Zusammen mit alten Bildern und Dokumenten vermitteln sie eine beklemmende Ahnung davon, was hier geschehen ist.

Den britischen Soldaten bot sich auf dem 35 Hektar großen Areal ein Bild des Grauens. Sie trafen etwa 14.000 Kriegsgefangene und rund 7.000 KZ-Häftlinge an. Zahlreiche unbestattete Leichen lagen auf dem Gelände. Schätzungsweise bis zu 50.000 Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge wurden hier ermordet oder starben an Seuchen, Durst und Hunger. Die Befreier verglichen Sandbostel mit dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. Noch kurz vor dem 29. April 1945 trafen 10.000 KZ-Häftlinge aus Neuengamme in Sandbostel ein. Auf diesem Todesmarsch und im Lager kamen etwa 3.000 von ihnen ums Leben.

Die Nazis hatten in Sandbostel eine perfide Hierarchie eingerichtet. Amerikaner und Briten waren die Spitze. Ganz am Ende standen Polen, Italiener und schließlich die sowjetischen Gefangenen, Männer wie Dmitri Lomonossow. Während die einen nach den Genfer Konventionen behandelt wurden, malen durften und Jazz spielten, verweigerte man den anderen alles. Die Sowjets wurden in einer Flecktyphus-Baracke ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen, mussten die Drecksarbeit leisten und bekamen "Russenbrot" aus Laub, Sägespänen und wenig Mehl.

Überlebender: "Dieser Ort hat für mich große Bedeutung" 

Hass empfindet Lomonossow trotzdem nicht. "Es klingt komisch. Aber mein Verhältnis zu den Deutschen war immer gut", sagt der Mann, der in Sandbostel von ukrainischen Wachposten misshandelt und bei seiner Heimkehr noch viele Jahre weiter diskriminiert wurde. Denn unter Stalin galten die Kriegsgefangenen als Verräter.

Der ehemalige sowjetische Kriegsgefangene Dmitry Lomonosov (85) ist zum 65. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Sandbostel erstmals wieder in das Lager gekommen. Foto: epd-bild/Dieter Sell

Was die Russen erlitten, lässt auch das Tagebuch von Elfie Walther erahnen, die als 16-jähriges deutsches Mädchen nach der Befreiung im Lager arbeiten musste: "Es ist grausam in den Typhus-Baracken. Mir fehlen die richtigen Worte, um all das Elend zu beschreiben. Skelette liegen dort, die aus ihren dreckigen Lagern, von oben bis unten mit Kot beschmiert, mit riesigen Augen auf uns starren. Ein Gestank. Überall Kot und Urinlachen. Wie schäme ich mich in diesem Augenblick, Deutsche zu sein."

Nach der Befreiung wurden hier SS-Angehörige sowie Mitglieder von KZ-Wachmannschaften inhaftiert. Ab 1948 war Sandbostel ein Zuchthaus, dann ein Auffanglager für jugendliche DDR-Flüchtlinge später Bundeswehrgelände und Gewerbegebiet. Über Jahrzehnte wurde um eine Gedenkstätte gestritten. Nun geht es voran. Bund, Land, Landkreis und die Reemtsma-Stiftung investieren 1,4 Millionen Euro, um Baracken vor dem Verfall zu bewahren. Lomonossow findet das wichtig - nicht nur, um die Erinnerung wachzuhalten: "Auf diesem Boden schwebte ich zwischen Leben und Tod. Dieser Ort hat für mich große Bedeutung." 

epd