Äthiopien ist ein stolzes Land mit vielen Problemen
Erneut gerät Äthiopien in die Schlagzeilen. Und wieder einmal sind die Nachrichten schlecht. Dieses Mal brachte nicht Hunger, sondern Mord und Entführung das arme Land am Horn von Afrika in die internationale Presse.
24.01.2012
Von Philipp Hedemann

Bei einem Überfall auf eine Touristengruppe in der Danakil-Wüste im Nordosten des Landes wurden am 17. Januar zwei Deutsche, zwei Ungarn, ein Österreicher und möglicherweise mehrere Äthiopier getötet. Zwei weitere Deutsche und zwei Äthiopier wurden verschleppt. Äthiopien beschuldigt Nachbar und Erzfeind Eritrea hinter der tödlichen Attacke zu stecken. Das international isolierte Regime in Asmara wies die Vorwürfe zurück. Mittlerweile hat eine äthiopische Rebellenorganisation sich zu der Entführung der Deutschen bekannt.

Desaster für den Tourismus

Der tödliche Überfall wird die äthiopische Tourismusindustrie, die in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen hatte, empfindlich treffen. "Dieser Vorfall könnte den gesamten Tourismus nach Äthiopien zum Erliegen bringen, auch wenn die anderen Landesteile sicher sind", befürchtet der in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba lebende italienische Tourismus-Manager Luigi Cantamessa.

In Äthiopien leben rund 91 Millionen Menschen, viele von ihnen in bitterer Armut. Im Human Development Index 2011 belegt Äthiopien den 174. von 187 Plätzen. Die Lebenserwartung liegt bei 56,2 Jahren, jede Frau bringt im Schnitt sechs Kinder zur Welt, 46,3 Prozent der Bevölkerung sind unter 14 Jahre alt.

Rund 85 Prozent der Äthiopier leben auf dem Land, viele von ihnen als Selbstversorger. Die kleinen Felder des rohstoffarmen Landes ohne Meerzugang werden meist wie vor hunderten von Jahren mit einem vom Ochsen gezogenen Pflug bestellt.

Oft zerstören Dürren oder heftige Regenfälle die Ernten. Das rasante Bevölkerungswachstum (ca. 3,2 Prozent) trägt dazu bei, dass immer wieder Menschen auf Lebensmittelhilfslieferungen angewiesen sind. Bei der Hungerkatastrophe 1984/85 starben mehr als eine Million Menschen.

Beispielloser Bauboom - und Ernten für den Export

Doch mit Äthiopien geht es bergauf. Im Human Development Index ist Äthiopien zwischen 2000 und 2010 der zweitschnellste Aufsteiger, nach Regierungsangaben wuchs die Wirtschaft in diesem Zeitraum jährlich um mindestens zehn Prozent. Chinesische Firmen bauen derzeit das marode Straßennetz aus, die äthiopische Regierung bemüht sich, mit gigantischen Wasserkraftwerken, das von Stromausfällen geplagte Land zu elektrifizieren, ein beispielloser Bauboom in der Hauptstadt Addis Abeba, dem Hauptsitz der afrikanischen Union, lässt in der Vier-Millionen-Metropole neue Hotels, Geschäfts- und Wohnhäuser aus dem Boden schießen.

Auf riesigen, bislang weitestgehend ungenutzten Flächen schicken sich ausländische Investoren an, moderne Großfarmen aus dem Boden zu stampfen. Einerseits können die Investitionen der äthiopischen Landwirtschaft den so dringend benötigten Modernisierungsschub bringen, andererseits ist das "Landgrabbing" äußerst umstritten, da die Ernten aus dem Hungerland Äthiopien überwiegend für den Export bestimmt sind, Umwelt- und Sozialstandards bei der Produktion oft nicht eingehalten werden. Doch die Regierung fördert das ausländische Engagement. "Wir möchten nicht die jungfräuliche Schönheit unseres Landes bewundern, während wir verhungern", sagte der Premierminister Meles Zenawi im vergangenen Jahr.

Bollwerk gegen den Islamismus

Im Mai 2010 errang Zenawis Partei bei einer international umstrittenen Wahl 545 der 547 Parlamentssitze. Auch wenn europäische Wahlbeobachter und Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass Mitglieder der Opposition bei dem Urnengang systematisch eingeschüchtert wurden und in den letzten Monaten viele kritische Journalisten inhaftiert wurden oder aus Äthiopien flohen, ist der Staat immer noch ein Liebling der internationalen Gebergemeinschaft.

Das 1,1 Millionen Quadratkilometer große Land, in dem sich nach offiziellen Angaben rund zwei Drittel der Bewohner zum christlichen Glauben bekennen, grenzt an Somalia, Eritrea, Südsudan, Sudan, Kenia und Dschibuti an und gilt in der Unruheregion als Bollwerk gegen den Islamismus.

Als Meles Zenawi mit seiner Rebellen-Armee 1991 den kommunistischen Diktator Mengistu Haile Mariam stürzte, wurde er weltweit als einer der neuen Führer Afrikas gefeiert, mittlerweile ist die Zahl der Fans des machtbewussten Politikers weltweit stark zurückgegangen.

Ein stolzes Volk

Trotz der vielen Probleme sind die meisten Äthiopier überaus stolz auf ihren Vielvölkerstaat, in dem gut 80 Ethnien mehr als 200 Sprachen und Dialekte sprechen. Sie sind stolz darauf, als Wiege der Menschheit zu gelten, da im Osten des Landes 1974 das 3,2 Millionen Jahre alte Skelett der Urzeitdame "Lucy" entdeckt wurde. Sie sind stolz darauf, bereits im vierten Jahrhundert das Christentum als Staatsreligion eingeführt zu haben.

Angeblich wird die Bundeslade mit den zehn Geboten in Äthiopien verwahrt. Allerdings ist sie so geheim, dass nur ganz wenige Priester sie je zu Gesicht bekommen haben sollen. Die Äthiopier sind auch stolz auf ihren letzten Kaiser Haile Selassie, der auf der ganzen Welt mit höchsten Ehren empfangen wurde und von Rastafaris noch immer als Messias verehrt wird. Außerdem sind sie stolz darauf, sich als einziges Land Afrikas erfolgreich gegen die Kolonialisierung gewehrt zu haben. Lediglich von 1935 bis 1941 wurde Äthiopien vom italienischen Faschisten Benito Mussolini besetzt.

Und nicht zuletzt sind sie stolz auf Marathonlegende Haile Gebrselassie, der als armer Bauernsohn geboren wurde und mittlerweile einer der bekanntesten Sportler der Welt und einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner Äthiopiens ist.


Philipp Hedemann lebt und arbeitet als Journalist in Addis Abeba.