Antisemitismus in Deutschland: Ein dauerhaftes Problem
Auf deutschen Schulhöfen und Fußballplätzen sind antisemitische Parolen an der Tagesordnung. Ein unabhängiges Expertengremium hat das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland untersucht - mit erschreckenden Ergebnissen. Es gibt wenig Wissen, aber viele Vorurteile, die über das Internet verbreitet werden.
23.01.2012
Von Bettina Grachtrup

Judenfeindliche Einstellungen sind nach Einschätzung von Experten in "erheblichem Umfang" bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft hinein verankert. Bei etwa einem Fünftel der Bevölkerung gebe es einen latenten Antisemitismus. Zu diesem Ergebnis kommt der am Montag in Berlin vorgestellte Antisemitismusbericht, den ein unabhängiges Expertengremium zum ersten Mal im Auftrag des Bundestages erstellte. Die Wissenschaftler forderten die Politik auf, entschlossen Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

"Antisemitismus in unserer Gesellschaft basiert auf weit verbreiteten Vorurteilen, tief verwurzelten Klischees und auf schlichtem Unwissen über Juden und das Judentum", sagte der Wissenschaftler Peter Longerich. Die Verbreitung des Gedankengutes - insbesondere über das Internet - sei kaum zu verhindern.

Sätze wie "Synagogen müssen brennen" auf Fußballplätzen

Vor allem von Rechtsextremisten werde Antisemitismus verbreitet - er sei dort ein bedeutendes ideologisches Bindeglied. "Das wird insbesondere durch die Tatsache unterstrichen, dass mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten von Tätern begangen werden, die diesem Spektrum zuzuordnen sind", sagte Longerich. Doch Antisemitismus sei bei weitem kein Randphänomen. Er reiche bis weit in die gesellschaftliche Mitte und biete dort Anknüpfungspunkte für rechtsextremistisches Gedankengut.

In dem Bericht heißt es, dass beispielsweise rassistische, rechtsextreme und antisemitische Parolen auch weiterhin auf deutschen Fußballplätzen an der Tagesordnung seien. Betroffen seien etwa jüdische Fußballvereine. "Sätze wie "Juden gehören in die Gaskammer", "Auschwitz ist wieder da" und "Synagogen müssen brennen" seien bei Wettkämpfen in der Regionalliga keine Seltenheit. In Schulen gehöre das Schimpfwort "Jude" vielerorts schon fast zum Allgemeingut.

Die Wissenschaftlerin Juliane Wetzel kritisierte: "Eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland existiert nicht." Der Antisemitismus lasse sich aber nur langfristig und mit nachhaltigen Maßnahmen angehen. Die bisherigen Projekte liefen uneinheitlich und unkoordiniert. "Sie gehen von unterschiedlichen Vorstellungen aus, was unter Antisemitismus zu verstehen ist und wie er zu bekämpfen ist." Ein großes Problem sei, dass viele Projekte nur zeitlich befristete staatliche Förderungen erhielten.

Hohe Antisemitismus-Werte in Polen, Ungarn und Portugal

Nach einem entsprechenden Bundestagsbeschluss im Jahr 2008 zum 70. Jahrestag der November-Pogromnacht hatte die Bundesregierung 2009 den Expertenkreis eingesetzt, um verstärkt gegen Antisemitismus vorzugehen. Das Gremium soll regelmäßig Berichte vorlegen. Für den ersten Bericht werteten die Wissenschaftler unterschiedliche Untersuchungen aus, die auf Meinungsumfragen basieren.

Bei der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung nehme Deutschland im europaweiten Vergleich einen Mittelplatz ein, heißt es in dem Bericht. Dies hänge auch damit zusammen, dass es in einigen Ländern wie Polen, Ungarn und Portugal zum Teil extrem hohe Antisemitismus-Werte gebe.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) mahnte, das Problem des Antisemitismus sei kein punktuelles, sondern ein dauerhaftes. Vertreter aller Bundestags-Fraktionen kündigten am Montag an, sich für Strategien und Projekte gegen Antisemitismus einsetzen zu wollen.

dpa