"Mit Gebeten hätte sich die DDR nicht fortjagen lassen"
Die Evangelische Kirche sollte nach Auffassung des Leiters der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn, ihren Beitrag zum Fall der Mauer 1989 selbstkritisch hinterfragen. Die friedliche Revolution habe auf der Straße stattgefunden und nicht in der Kirche, sagte Jahn im Interview. Der frühere DDR-Bürgerrechtler über die Stasi-Aufarbeitung in der Kirche, die umstrittene Rolle Manfred Stolpes und die Bedeutung von Kerzen und Gebeten für den Sturz der DDR-Regierung.
23.01.2012
Von Markus Geiler und Thomas Schiller

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in den 90er Jahren die Stasi-Verstrickungen des Protestantismus von einer Kommission unter Leitung des ehemaligen Kirchenamtspräsidenten Otto von Campenhausen aufarbeiten lassen. Inzwischen sind viele weitere Quellen verfügbar. Sollte die Kirche auf Basis der neuen Quellenlage erneut forschen?

Roland Jahn: Ich kann nicht sagen, ob es in diesem Bereich neue Dokumente gibt, die eine Nachforschung zwingend erforderlich machen. Aber es ist ratsam, alle paar Jahre Forschungen zu ergänzen. Wichtig ist es, im Gespräch zu bleiben. Der Bedarf ist da, das merke ich immer im Gespräch mit kirchlichen Vertretern. Auch über alte Akten kann es immer wieder neue Sichtweisen geben, wenn man sie in ein neues Licht hält. Das Wichtige ist, zu verstehen, wie etwas funktioniert hat, ohne gleich immer mit Vorwürfen aufzutreten.

Erwarten Sie beim Thema Stasi und Kirche noch Überraschungen?

Jahn: Ich weiß, dass in jeder Akte Überraschungen sein können. Das Archiv ist groß und es werden weiterhin Akten erschlossen.

Roland Jahn, der neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Foto:  Rainer Jensen/dpa

Im vergangenen Jahr ist der Fall Manfred Stolpe und seine umstrittene Rolle im DDR-Kirchenbund neu diskutiert worden. Wie bewerten Sie sein Wirken zu DDR-Zeiten?

Jahn: Ich habe immer hohe Achtung davor gehabt, was Manfred Stolpe für die evangelischen Kirchen in der DDR, aber auch für die Opposition in der DDR geleistet hat. Es war mir immer wichtig, dass man das anerkennt. Ich weiß, dass es eine Gratwanderung war, die er gemacht hat. Ich würde mir aber wünschen, dass auch er sich hinterfragt, weil es auch Menschen gibt, die sich durch Manfred Stolpe in ihrem Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt gefühlt haben durch die Art und Weise, wie er mit dem Staat verhandelt hat.

"Es ist wichtig,

dass nicht irgendjemand

ein Geschichtsbild vorgibt"

 

Wenn man Leute fragt, die im kirchlichen Bereich mit Stolpe zusammen gearbeitet haben, sagen die einen: Stolpe hat uns nichts erzählt. Andere sagen: Wir waren froh, dass wir nicht zu fragen brauchten. Hätte mehr gefragt werden müssen?

Jahn: Ich denke, es wäre ratsam gewesen, offener zu agieren und mehr zu hinterfragen. Es ist schon bezeichnend, wenn der damalige Landesbischof von Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck, sagt, er habe von den Stasi-Kontakten nichts gewusst.

Müssen die ostdeutschen Kirchen ihre Rolle als diejenigen, die der friedlichen Revolution ihre Schutzräume gegeben haben, noch einmal selbstkritisch hinterfragen?

Jahn: Es ist wichtig, dass man auch die Rolle der Kirchen hinterfragt und dass nicht irgendjemand ein Geschichtsbild vorgibt. Ich weiß, dass sich damals viele von der Kirche im Stich gelassen gefühlt haben, wenn man etwa an den Kirchentag 1987 denkt und die "Kirche von Unten", die sich ja bewusst neben der etablierten Kirche gegründet hat. Es ist wichtig, genau hinzuschauen, was in der Kirche möglich war und was nicht. Das soll nicht die positive Rolle vieler einzelner Pfarrer mindern, die ihre Räume geöffnet haben für die Menschen, die in Not waren.

Wäre die friedliche Revolution ohne die Kirche möglich gewesen?

Jahn: Das ist Spekulation. Ich kann nur sagen: Viele Menschen in der Kirche haben zu dieser friedlichen Revolution beigetragen. Aber das Entscheidende ist: Sie hat auf der Straße stattgefunden und nicht in der Kirche. Mit Kerzen und Gebeten hätte sich die DDR-Regierung nicht fortjagen lassen.

epd