Opfer zweiter Klasse? Ost-Heimkinder ringen um Entschädigung
Jahrelang wurden sie in Heimen und Werkhöfen drangsaliert. Heute fürchten viele frühere DDR-Heimkinder, dass die geplante Entschädigung für Ostdeutschland an ihren Bedürfnissen vorbeigeht.
23.01.2012
Von Sybille Gurack und Ulrike von Leszczynski

Sie waren allein im Dunklen eingesperrt, bekamen Prügel oder durften nicht miteinander sprechen. Es gab drakonische Strafen und Akkordarbeit. Was Jungen und Mädchen in DDR-Heimen und Jugendwerkhöfen erlebten, hat viele von ihnen für ihr Leben gezeichnet. Nun ist eine Entschädigungsregelung in Arbeit, die sich am neuen Fonds für ehemalige Heimkinder aus Westdeutschland orientieren soll. 40 Millionen Euro sind dafür vorgesehen. Doch eine West-Kopie mit Verzichtserklärung und reinen Sachleistungen wollen viele ostdeutsche Betroffene nicht. Sie fordern eine andere Form der Entschädigung - zum Beispiel Monatsrenten in Höhe von 300 Euro.

"Die Schlampe aus dem Jugendwerkhof ist da!"

Rund 120.000 Kinder und Jugendliche haben nach Schätzungen in der DDR in Heimen gelebt. Nicht alle haben Demütigungen erfahren. Viele aber berichten von körperlichen und seelischen Qualen, die sie bis heute verfolgen. Norda Krauel aus Brandenburg wurde von ihrem Onkel sexuell missbraucht und lief von zu Hause weg. Mit 16 kam sie in ein Heim. Das warf einen Schatten über ihr ganzes Leben. "Die Schlampe aus dem Jugendwerkhof ist da!" - so wurde sie mit 18 Jahren in einem volkseigenen Betrieb in Halle vorgestellt. Der Stempel vom Jugendwerkhof im Sozialversicherungsausweis habe wie ein Stoppschild für jede weitere Lebensplanung gewirkt, sagt sie heute.

[listbox:title=Mehr im Netz[Bundestagsbeschluss zu Heimkindern]]

Robby Basler, Mitglied der Selbsthilfeorganisation ehemaliger Heimkinder (DEMO) in Brandenburg, verweigerte als Teenager den Staatsbürgerkundeunterricht in der Schule. Als Strafe kam er für zwei Jahre in einen Jugendwerkhof. Heute klagt er beim Europäischen Gerichtshof gegen seine Peiniger.

Krauel und Basler wenden sich entschieden gegen einen Fonds wie im Westen, der Sachleistungen wie Therapien fördert. "Die Fondslösung ist eine Mogelpackung. Therapien sind eine Krankenkassen-Leistung", sagt Basler. Er fordert eine gesetzliche Grundlage für Entschädigungen. Norda Krauel will die Anerkennung von Unrecht, eine Rehabilitierung und finanzielle Hilfe.

Fondslösung schürt Misstrauen

Die Lage in Ostdeutschland ist komplizierter als im Westen, wo es seit Januar 2012 einen geregelten Anspruch auf Entschädigung für ehemalige Heimkinder gibt. Im Osten erhielten Bewohner des ehemaligen geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau und alle Opfer, die politische Motive für ihre Qual nachweisen konnten, bereits nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) eine Entschädigung. Andere gingen bei ähnlicher Pein leer aus. "Als gebe es Opfer erster, zweiter und dritter Klasse", kritisiert Lutz Adler, Vorsitzender ehemaliger Heimkinder in Hessen. Er will die Betroffenen im Osten unterstützen - und warnt sie vor einer Fondslösung.

Der Jugendwerkhof der DDR im sächsischen Torgau, heute Gedenkstätte und Museum. Foto: epd-bild/DIZ Torgau

Peter Schruth, Ombudsmann für westdeutsche und ostdeutsche ehemalige Heimkinder, sieht die Krux in der rechtlichen Lage. "Es wird kein systematisches Unrecht anerkannt", sagt er. Deshalb könne eine Entschädigung aus einem Fonds nur Folgeschäden berücksichtigen. Günstiger für ostdeutsche Betroffene wäre es, wenn das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz, das Ende 2010 weiter geöffnet worden sei, angewendet würde. Denn damit kann es eine monatliche Opferrente von 250 Euro geben. Käme ein Fonds für den Osten, müssten Antragsteller wahrscheinlich auf solche Ansprüche verzichten. Das schürt Misstrauen.

Die Rehabilitation müsse so angelegt sein, dass jedes Opfer das bekomme, was es brauche, sagt Heidemarie Puls, Opferbeiratsmitglied aus Torgau. Denn viele ehemalige Heimkinder hätten durch körperliche oder psychische Schäden in ihrem späteren Leben kaum arbeiten können.

Entschädigungen für ehemalige Heimkinder

Eine geregelte Entschädigung für Männer und Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Demütigungen und Misshandlungen in Heimen erlebten, gibt es seit dem 1. Januar 2012. Allerdings gilt der mit 120 Millionen Euro gefüllte Fonds, der auf Antrag Sachleistungen wie Therapien, Gesundheitsförderung oder altersgerechten Wohnungsumbau unterstützt, bisher nur für die Jahre zwischen 1949 und 1975, und nur für Opfer aus Westdeutschland.

Für Ostdeutschland soll bis Ende des Jahres eine Entschädigungsregelung gefunden werden. Angedacht ist ein Fonds mit zusätzlich 40 Millionen Euro. Kritiker an solchen Fondslösungen gibt es sowohl in west- als auch in ostdeutschen Opferverbänden. Nach Schätzungen gab es in Westdeutschland rund 800.000 Heimkinder, im Osten etwa 120.000. Gerechnet wird mit Entschädigungsansprüchen von mehr als 30.000 Betroffenen.

Die Lösung für Westdeutschland geht auf die Initiative westdeutscher ehemaliger Heimkinder zurück, die sich 2006 an den Petitionsausschuss des Bundestages wandten. Sie forderten eine Entschädigung für menschenunwürdige Erziehungsmethoden, unter anderem entwürdigende Bestrafungen, willkürliches Einsperren, körperliche und sexuelle Gewalt sowie vollständige Entmündigung. Für den Fonds stellten der Bund, die westdeutschen Bundesländer und die Kirchen jeweils 40 Millionen Euro bereit.

Im Bundestags-Beschluss heißt es als Ergebnis, dass die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik und in der DDR vielfältig war. Es habe fürsorgliche Behandlung gegeben, aber auch Heime, in denen systematisch Leid und Unrecht zugefügt worden sei. Eine pauschale Entschädigung wurde vom Bundestag verworfen, weil die damalige westdeutsche Heimerziehung nicht generell als Unrecht einzustufen sei. Die Diskussion über Entschädigungsmodalitäten für Heimkinder, die Opfer des Unrechtsstaats DDR wurden, ist noch in vollem Gang.

dpa