Die Sonne stand schon tief am Himmel, als der dunkle Honda Civic mit Lagosser Kennzeichen am Freitag auf einen Checkpoint vor dem Polizeiquartier nahe der Universität von Kano zuhielt. Augenzeugen berichten, die Polizisten hätten den Fahrer - einen jungen Mann - mit Handzeichen aufgefordert, anzuhalten. Doch stattdessen beschleunigte der Wagen, durchbrach eine Absperrung und raste direkt auf das Hauptgebäude zu. "Dann hörte man nur noch einen Knall, und auf einmal stand alles in Flammen", sagt ein Zeuge. "Menschen sind in alle Richtungen geflohen, es war blankes Chaos."
Das Chaos breitete sich schnell über die Zehn-Millionen-Metropole aus. Denn nahezu zeitgleich detonierten in Nigerias zweitgrößter Stadt geschätzte vierzig Sprengsätze. Die Urheber: die radikal-islamische "Boko Haram". Am Sonntag war die Zahl der Toten auf mindestens 170 gestiegen. Vermutlich wird sie weiter steigen, denn die Krankenhäuser waren nach eigenen Angaben kaum in der Lage, sich um alle Verletzten zu kümmern. Ziele der Attentäter waren staatliche Institutionen, Polizeiwachen, die Zentrale des Geheimdienstes, eine Behörde. Doch unter den Opfern sind auch viele Passanten und Zivilisten. Ganz Nigeria ist über das Ausmaß der Attentate entsetzt. Zeitungen sprechen bereits von Krieg.
"Die Verantwortlichen werden den vollen Zorn des Gesetzes zu spüren bekommen"
Die jüngsten Anschläge der "Boko Haram" sind - mehr noch als die vorherigen - eine gezielte Provokation gegen den nigerianischen Staat. Ein Sprecher der Islamisten, die einen Gottesstaat in Nigeria errichten wollen, nannte die Attentate eine 'Vergeltung' dafür, dass mehrere Mitglieder der Gruppe nicht wie gefordert aus der Haft entlassen worden seien. Doch vor allem sollen die Anschläge wohl beweisen, was der mutmaßliche "Boko-Haram"-Anführer Abubakar Shekau vor einigen Wochen an Nigerias Präsidenten Goodluck Jonathan gewandt höhnisch ankündigte: "Uns zu besiegen ist jenseits deiner Fähigkeiten, Jonathan."
Zwar versprach Jonathan in einer Fernsehansprache erneut Härte. "Die Verantwortlichen werden den vollen Zorn des Gesetzes zu spüren bekommen. Als verantwortungsvolle Regierung werden wir nicht unsere Hände in den Schoß legen und zusehen, wie diese Feinde der Demokratie in unserem Land nie gesehenes Übel verbreiten." Doch das Inferno von Kano zeigt, wie leer die Drohungen sind.
Nigeria steuert auf einen Bürgerkrieg zu
So scheint sogar fraglich, ob die Sicherheitsbehörden noch in der Lage sind, einen Bürgerkrieg im Vielvölkerstaat Nigeria mit mehr als 160 Millionen Einwohnern zu verhindern. Seit den Anschlägen der "Boko Haram" auf vier Kirchen am ersten Weihnachtstag sind Zehntausende Christen aus dem mehrheitlich muslimischen Norden geflohen. Am Wochenende kündigte die Organisation 'Ohanaeze Ndigbo' an, die auf drei Millionen geschätzten Angehörigen der Ibo-Ethnie würden in ihre traditionelle Heimat im Südosten des Landes zurück kehren. "Die Ibo fühlen sich als Opfer einer gezielten Terrorkampagne der Boko-Haram-Sekte und haben kein Vertrauen mehr in den Schutz durch Polizei und Armee", erläuterte der Afrika-Referent der "Gesellschaft für bedrohte Völker", Ulrich Delius am Sonntag.
Die Szenerie erinnert erschreckend an die Geschehnisse Mitte der 60er Jahre, als Pogrome gegen die Ibo in Kano den Biafrakrieg auslösten. Manche befürchten, vor allem arbeitslose Jugendliche im wirtschaftlich abgehängten Norden ließen sich leicht von "Boko Haram" radikalisieren. Im Norden sind die Vorbehalte gegen den christlich geprägten Süden zudem nicht nur unter Extremisten groß: dass Jonathan, ein Christ aus dem Niger-Delta, zum Präsidenten gewählt wurde, halten viele für ein weiteres Zeichen dafür, dass der Süden den politisch traditionell dominanten Norden nicht erst nimmt.
Radikale Saat der "Boko Haram" fällt auf fruchtbaren Boden
Auch in einer anderen Traditionsbastion, dem Militär, hat der Norden seine Führungsansprüche aufgeben müssen. Das oberste Kommando führt - ausgerechnet - ein Ibo. Die radikale Saat der "Boko Haram" fällt damit vielerorts auf fruchtbaren Boden. Unterstützung erhalten die Extremisten aber auch von den einflussreichen mafiösen Netzwerken des Landes, die schon jetzt am Anti-Terror-Krieg kräftig mitverdienen. Ein Viertel des nigerianischen Haushalts ist schon jetzt für Militär und Polizei vorgesehen: Milliardensummen, von denen große Teile an korrupte Elemente der nigerianischen Gesellschaft gehen.
Während Jonathans Regierung versucht, den Korruptionssumpf an manchen anderen Stellen trocken zu legen, tun sich hier neue Einnahmequellen auf - dank der Gefahr durch "Boko Haram", die dafür naturgemäß am Leben bleiben muss. Sollte es tatsächlich zum Bürgerkrieg kommen, droht die Situation für Jonathan endgültig außer Kontrolle zu geraten. Innerhalb der Armee, wo viele Nordnigerianer über die schwache Führung und den wachsenden Einfluss der Generäle aus dem Süden enttäuscht sind, könnte es zum Putsch kommen.