"Richtig sprechen konnte der alte Herr in Bethel nicht mehr", erzählt Pfarrer Theodor Maas, der in den Siebzigern dort Zivildienst geleistet hat. Aber plötzlich war eine Sprachmelodie bei dem sterbenden, hochdementen Mann erkennbar: Es war das Vaterunser. Auch wenn im Verlauf der Veränderung der Intellekt und viele Fähigkeiten schwinden, Gefühle und religiöse Bedürfnisse bleiben.
"Wichtig beim Umgang mit dementiell Veränderten ist das Ritual und die Erinnerung", sagt die katholische Psychiatrieseelsorgerin Caroline Braun von der Integrierten Psychiatrieseelsorge Aachen, die gemeinsam mit Mitarbeitern von Senioreneinrichtungen zweimal jährlich in Aachen einen ökumenischen Gottesdienst für Demente feiert.
Und hier gilt: Texte und Lieder müssen bekannt sein, und die Botschaft tröstlich. Und zum Sehen und Riechen muss etwas da sein, daher sind Blumenschmuck, das liturgische Gewand der Seelsorgerin, Kerzen und natürlich Kaffee und am Schluss etwas Passendes zu essen: So gab es beim Herbstgottesdienst "Lutherbrötchen" und "Lutherkekse". Denn das Thema hieß "Martin Luther".
Die Schlichtheit des Gottesdienstes war erfolgreich. Die Senioren sangen fröhlich mit. Auch im Chor "Die lustige Flora" des Aachener Alexianerkrankenhaus, einer psychiatrischen Klinik, sind Menschen mit dementiellen Veränderungen dabei. Schließlich bedeutet Demenz nicht den völligen Verlust aller geistigen Kompetenzen, vieles ist noch da und muss soweit möglich auch erhalten werden. Und dazu gehören neben Volksliedern und Erfahrungen auch der Bezug zu Religion und Kirche.
Das Gefühl ist entscheidend
Dieser Bezug spielt auch eine Rolle, wenn Theodor Maas, der in Würselen bei Aachen als Krankenhausseelsorger arbeitet, ans Bett seiner dementen Patienten tritt. "Ich gehe auf die Gefühle der Patienten ein", sagt er. So weckt der Duft von Lebkuchen und Spekulatius im Advent Erinnerungen an Weihnachten in der Kindheit. Der Demente wird klar und erzählt von früher. "Man erinnert sich am deutlichsten in einer Verbindung mit Geruch", sagt Maas.
Schließlich sind Gefühle etwas, das bleibt, auch wenn der Verstand schon lange ausgesetzt hat. Bei Pfarrer Maas ist die Einzelbetreuung sehr wichtig, denn er hat es im Krankenhaus mit Patienten zu tun, die wegen einer organischen Erkrankung aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen sind und einfach nicht wissen und verstehen, was mit ihnen geschieht.
Hier gilt es eine gute Atmosphäre zu schaffen und zu schauen, was den Dementen bewegt. So kann es durchaus vorkommen, dass der Geistliche auch einmal Psalm 23 mit dem Patienten betet - "der Herr ist mein Hirte". "Man muss Demenzkranke in ihrer Welt belassen", sagt er. Denn der Kranke bleibt immer ein Mensch.
Symbole helfen, sich zurechtzufinden
Hilfe bei seiner Arbeit bekommt Theodor Maas von den "Grünen Damen", einer ökumenischen Gemeinschaft, die neben Einkaufsdiensten und Botengängen für Patienten auch für Gespräche zur Verfügung stehen. Maas schult die Ehrenamtler auch im Umgang mit dieser speziellen Patientengruppe.
Heutige Senioren sind noch stark religiös geprägt, und haben vieles so verinnerlicht, dass sie es auch im Zustand der Hochdemenz noch beherrschen. "Der Rosenkranz ist ganz wichtig", sagt Ewald Heup, Leiter des katholischen Seniorenzentrums St. Severin in Aachen. Mit Hilfe von Ritualen schaffen es Geistliche und Pflegekräfte, in den Bewohnern Erinnerungen zu wecken und ihnen geistlich nahe zu sein. Eine Sozialarbeiterin erzählt von einem Bewohner, der die Sprache verloren hatte, aber nach dem Kreuzzeichen wieder anfing zu sprechen.
"Lutherbrötchen" und Rosenkranz
Evangelischen Christen fehlen viele dieser Möglichkeiten. "In dieser Hinsicht beneide ich die Katholiken", gibt Pfarrer Maas unumwunden zu. "Sie haben einfach mehr Möglichkeiten, sich ihres Glaubens zu vergewissern", sagt er. Die körperlichen Dinge wie das Benetzen der Hand mit Weihwasser, der Duft von Weihrauch oder das Gleiten der Rosenkranzperlen durch die Finger fehlen den Protestanten.
Evangelische Geistliche verschaffen sich daher mit reformatorischen Mitteln Zugang oder schaffen eigene Symbole wie etwa die "Lutherbrötchen" beim ökumenischen Gottesdienst für Demente. So bieten Tauf- oder Konfirmationsspruch, andere Bibelzitate, volkstümliche Gebetsreime und vor allem das reiche evangelische Liedgut eine Möglichkeit, zu den Dementen durchzudringen.
So verwundert es nicht, dass beim Gottesdienst in der ökumenischen Citykirche St. Nikolaus das Lutherlied "Ein feste Burg ist unser Gott" von den circa vier anwesenden evangelischen Sängern – Aachen ist Diaspora – souverän und in allen Strophen auswendig erklang. Demenzkranke sind da in ihren Aktionen sehr authentisch, es ist zu vermuten, dass Nichtdemente in ähnlicher Konstellation nicht mitgesungen hätten.
Kaffeemühle als Türöffner
Caroline Braun ist erstaunt, wozu dementiell veränderte Menschen noch fähig sind. "Die wissen ihren Namen oft nicht mehr, kennen aber dafür Kirchenlieder mit allen Strophen auswendig", sagt sie. Aber der Gottesdienst ist nicht alles, was die katholische Psychiatrieseelsorgerin für demente Menschen leistet.
So trifft sich regelmäßig ein kleines Trüppchen von dementiell Veränderten zum "Verzällcafé".
Auch dort gibt es feste Rituale. Nach Kaffee und Kuchen kommt man dann mit Hilfe eines alten Gegenstandes, etwa einer Kaffeemühle, ins Gespräch. Ältere Erinnerungen bleiben am längsten, und die Senioren können noch sehr lebendig erzählen, wie viel der Kaffee in den Dreißigerjahren gekostet hat oder dass die eigene Oma ein ähnliches Bild auf dem Bord stehen hatte.
Wenn aus der Tochter "die Mutter" wird
Daneben gehört zu ihrer Arbeit auch die Betreuung von Angehörigen, denn ein Demenzpatient kann sehr belastend werden, etwa wenn er permanent seine Angehörigen des Diebstahls bezichtigt. Denn viele Demente finden es würdelos, etwas zu verlegen, also kann es nur "gestohlen" sein.
Die Angehörigenarbeit ist auch ein ganz wichtiger Aspekt der Arbeit von Pfarrer Theodor Maas. Einmal im Monat trifft er sich mit einer Angehörigengruppe. Auch hier ist das Zuhören ein wichtiger Aspekt, denn immer wieder gibt es Dinge, die immer wieder vorkommen. Demenzkranke sind sich oft ihrer Krankheit nicht bewusst, sodass es beispielsweise schwierig ist, wenn sie ein Angehöriger zur ärztlichen Untersuchung begleitet.
Schließlich ist der Angehörige oft die Tochter, und es ist nicht begreiflich, dass "die Kleine" bei so etwas Intimem wie einem Arztbesuch dabei sein muss. Auch hier sind – ungeachtet der Notwendigkeit der Begleitung – die Gefühle ernst zu nehmen. Denn der Demente ist und bleibt Mensch mit all seiner Würde, und auch das ist ein wichtiger religiöser Aspekt in der schwierigen, aber auch dankbaren Arbeit mit diesen Menschen.
Dr. Klaus Schlupp ist Theologe und freier Journalist in Aachen.