Europas größtes Kreuzfahrtschiff, die "Costa Concordia", ist ein Wrack. Einer trägt die Verantwortung, heißt es, dass es dazu kam. Anstatt als letzter von Bord zu gehen, wie es sich gehört, verließ er es zu früh. Kapitän Francesco Schettino, 52 Jahre, schaut mich seit einer Woche aus vielen Medien an. Wer ist er? Manchmal sieht er flott aus, erfolgsverwöhnt, in weißer Kapitänskleidung. Manchmal wirkt er nur müde, seine Augen zucken. Er redet und lügt um sein Leben, verheddert sich in Halb- und Unwahrheiten. So kippt auch sein Lebensschiff vor unser aller Augen um und schlägt leck. Die italienische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die Costa Concordia verlassen zu haben, als ein Großteil der Passagiere noch darauf wartete, von Bord zu kommen.
"Flüchten oder Standhalten?"
Täglich hören wir von Menschen, die seinen Beistand entbehrt haben. Medienberichten zufolge hat die Küstenwache ihn mehrfach aufgefordert, wieder an Bord zu gehen, um die Evakuierung zu koordinieren. Doch der Kapitän soll sich geweigert haben. Ein Mensch wird schuldig, und wir erleben das mit. Er wird für den Tod anderer verantwortlich gemacht. Er hat das sicher nicht gewollt. Aber er hat sein Schiff in unsichere Gefilde gesteuert. Wollte Schettino ein besonders waghalsiger Käptn sein? Einer, von dem man spricht? Einer, dem man von der nahen Insel Giglio wie beim Kapitänsdinner zujubelt? Einer, in dessen Gegenwart man ahnt, man hat den hohen Preis für diese besondere Kreuzfahrt nicht umsonst bezahlt.
Mir geht es unter die Haut, wie schnell aus ganz Großem ganz Kleines werden kann. Aus einem Luxusschiff ein Wrack. Aus einem flotten Kapitän ein feiger Flüchter. Aus einem, der dazu da ist, zu bleiben, einer, der einfach abhaut. Einer, der zu schwach ist, um standzuhalten. Gehen oder bleiben. Jeden Tag treffen wir auf Menschen, die sich damit auseinandersetzen. Manche machen das unserer Meinung nach recht gut. Bei anderen haben wir unsere kritischen Fragen. Jeder Mensch hat mit diesem Thema zu tun: Flüchten oder Standhalten. Auch ich selbst.
Jeder von uns steuert sein Lebensschiff
Die meisten von uns müssen niemals ein Riesenschiff steuern. Aber jeder von uns steuert sein Lebensschiff. Und in ihm fahren Menschen mit, die sich auf uns verlassen. Wir möchten das gut machen, hin und wieder beachtet werden. Wir fühlen uns wohl, wenn andere auf uns schauen, uns erkennen, uns freundlich zuwinken. Aber wenn wir uns verfahren, einen falschen Kurs steuern und dadurch andere in Gefahr bringen? Wenn wir an ihnen schuldig werden? Wir kennen die Geschichten: Eine fährt bei Rot über die Ampel. Ein anderer lügt sich sein Amt zu Recht. Ein dritter betrügt seine Partnerin.
Die Bibel ist dort am provokantesten, vielleicht auch am unerträglichsten, wo sie jedem zuruft, der schuldig wird und am liebsten weglaufen möchte: bleib hier! Stelle dich deiner Schuld! Sie sei klein oder groß wie das Meer. Geh ins Gefängnis. Lege ein Schuldgeständnis ab. Warte auf die Polizei, die dich als Verkehrssünder verurteilt. Lege eine Beichte ab. Sag endlich die Wahrheit und entschuldige dich bei denen, die du belogen hast. Halte Stand. Mach dich nicht davon. Was bringt es den Opfern nahe der Insel Giglio, wenn Kapitän Schettino seine Schuld auf sich nimmt und die Konsequenzen trägt?
Für mich würde dadurch Menschlichkeit an ihm erkennbar, ein erster Anfang von Achtsamkeit gegenüber den Opfern und ihrer Würde. Ich würde mich darin bestätigt sehen, dass man den Reflex, davonzulaufen besiegen kann, dass man an seiner Scham, versagt zu haben, nicht ersticken muss.
Gabriele Herbst ist Pfarrerin in Magdeburg. Die Morgenandacht wurde am Freitag 20. Januar 2012, frühmorgens im Deutschlandfunk gesendet.