"Ich bin ein Krimineller. Mit Ausnahme von Kinder schänden und Frauen vergewaltigen habe ich alles gemacht." Es kostet Mustafa Özbek erkennbar Mühe, diesen Satz über seine Lippen zu bringen. Aber er will es, als Teil des Versuches, seine Vergangenheit zu bewältigen und endlich ein straffreies Leben zu führen. Dazu gehört auch, dass er in Bremen als Streitschlichter bei allen möglichen Konflikten tätig ist, bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Gemüsehändlern über schlechte Ware, aber auch nach Straftaten zwischen Tätern und Opfern und deren Familien.
Solche Befriedungsaktionen vermitteln dem 45-Jährigen ein Glücksgefühl, wie er sagt: "Ich schaffe Probleme aus der Welt und kann Gewalt verhindern. Ich fühle mich dadurch geehrt und denke, mit Verständigungen kann ich ein wenig des Unrechts sühnen, das ich begangen habe." Beim Schlichten führt der Kurde eine Familientradition fort: "Ich habe das Schlichtergen im Blut."
Aber das ist auch ein Problem für den deutschen Rechtsstaat, dem es um eine durchschaubare Rechtsprechung gehen muss. Im Juni 2009 kam es vor und im Diakonie-Krankenhaus in Bremen zu einer Messerstecherei zwischen zwei Familien, bei der ein Türke schwer und fünf andere Raufbolde erheblich verletzt wurden. Die Familien baten ihn um Vermittlung. Geschäftsgrundlage jeder Verständigung ist für Özbek der Versuch, das bereits laufende Strafverfahren zu beeinflussen: "Wenn du dich mit dem Täter verträgst, musst du dich entsprechend verhalten." Das heißt konkret: Das Opfer soll als Zeuge seine Aussage ändern – es kann sich plötzlich nicht mehr erinnern, bagatellisiert die Verletzung oder verweigert in der Hauptverhandlung seine Aussage.
Ein Laiengericht aus Schlichtung, Strafverzicht und Selbstjustiz
So geschah es auch nach dem von Özbek ausgehandelten Friedensvertrag. Die Staatsanwaltschaft musste die Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder beider Familien mangels Beweises einstellen, weil alle Beschuldigten und Zeugen die Taten bestritten, von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machten oder sich auf Notwehr beriefen. Das Dickicht widersprüchlicher Aussagen war nicht zu durchdringen. Ein Musterbeispiel für das verhängnisvolle Wirken von Streitschlichtern. Sie sind Richter ohne Gesetz in der Tradition der Scharia. Sie werden hinzugezogen bei Ehe- und Familienstreitigkeiten, vor allem aber im Hintergrund von Strafverfahren. In Berlin-Neukölln, Bremen-Huchting oder Essen-Altenessen bilden sie das Rückgrat einer Paralleljustiz. Diese Laiengerichtsbarkeit ruht auf drei Säulen: Schlichtung, Strafverzicht gegen finanzielle Wiedergutmachung und Selbstjustiz.
Die Entwicklung einer Paralleljustiz wirft ein Schlaglicht auf ein bisher weithin unbekanntes Phänomen misslungener Integration: die fehlende Akzeptanz unserer Rechtsordnung und ihrer Institutionen Polizei und Strafjustiz bei einem Teil muslimischer Einwanderer. Ein Arbeitspapier der Bremer Informationsstelle ethnische Clans (ISTEC) formuliert das für libanesische Großfamilien drastisch: "Die Familie steht über dem Gesetz." In manchen muslimischen Ethnien stehen Brauchtum und Scharia über unserer Rechtsordnung.
Unsere Justiz hat zwei Probleme mit ihrem muslimischen Widerpart bisher nicht gelöst. Erstens ist Paralleljustiz nur selten zu erkennen. Der ehemalige Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität bei der Bremer Staatsanwaltschaft und jetzige Bundesanwalt Jörn Hauschild schätzt, dass in 90 Prozent aller Strafverfahren mit Tätern und Opfern aus dem muslimischen Kulturkreis die Schlichtungen nicht bekanntwerden. Die Strafverfolgungsorgane kennen also nur die Spitze des Eisbergs. Und zweitens hat die Justiz bisher kein Mittel gefunden, sich gegen die Schattenjustiz zu wehren. Die Bilanz: 87 Prozent der Verfahren, in deren Hintergrund Streitschlichter tatsächlich oder mutmaßlich die Strippen gezogen haben, endeten mit Freisprüchen oder Einstellungen.
"Das Rechtssystem wird ausgehebelt"
Diese Ohnmacht der Justiz entsteht freilich nur, wenn die Ermittler nicht auf Sachbeweise wie Videos oder DNA-Spuren zurückgreifen können und allein auf Zeugenaussagen angewiesen sind. Carsten Wendt, Dezernatsleiter Organisierte Kriminalität im LKA Berlin, gibt den Notstand offen zu: "Das Rechtssystem wird ausgehebelt. Mit den bisherigen polizeilichen Mitteln ist der Nebenjustiz nicht beizukommen." Ein solcher Warnruf ist selten im Großapparat Strafjustiz. Viele Ermittler begegnen der Herausforderung gewöhnlich ohne Biss. Zwei Beispiele aus der Essener Justiz: Eine Richterin unterbricht eine Hauptverhandlung für sechs Monate, weil das Opfer zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ob es den Täter be- oder entlasten soll. Und für eine vom Opfer angeregte richterliche Vernehmung braucht die Essener Justiz zwei Monate - ein Zeitraum, in dem sich Täter- und Opferfamilie längst geeinigt hatten, um die Beweislage zu verfälschen.
Was tun? Es gibt engagierte Kriminalbeamte, Staatsanwälte und Richter, die mit viel Arbeit und Ärger den Streitschlichtern Paroli bieten. In Bremen ist es einer Schwurgerichtskammer in 23 Verhandlungstagen gelungen, zwei Täter aus einer Massenschlägerei mit 15 bis 20 Beteiligten zu überführen. Das Kapitel Beweiswürdigung war 64 Seiten lang. Und auch in Essen sind zwei Messerstecher zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden, obwohl alle Zeugen ihre Aussagen vor der Polizei in der Hauptverhandlung widerrufen hatten. Aber die Mühen von Polizei und Justiz haben sich gelohnt.
Die große Mehrheit der Staatsanwälte und Richter reagiert allerdings mit träger Routine. Es gibt in Berlin, Bremen und Essen keinen einzigen ernsthaften Versuch, einen Streitschlichter wegen Strafvereitelung zu verfolgen. Fast nie haken Staatsanwälte und Richter nach und versuchen bei Aussageveränderungen zu ermitteln, ob Streitschlichter hinter den Kulissen tätig waren. Und sie üben keinen Druck auf Zeugen aus, wenn sich diese nicht erinnern können, offensichtlich die Unwahrheit sagen oder mit juristischen Tricks ihrer Anwälte die Aussage verweigern. Statt mit Ordnungsgeld oder -haft zu drohen und sie notfalls auch zu verhängen, wählen sie den Weg des geringsten Widerstandes und klappen die Akten zu. Genau das ist aber der falsche, weil nicht zielführende Weg.
Es gibt keine Strategie, um die muslimische Gegenjustiz in die Knie zu zwingen
Die Verantwortung für diese Missstände tragen neben den Richtern Generalstaatsanwälte und die Innen- und Justizminister der Länder. Die Strafjustiz hat bisher keine Strategie entwickelt, um die muslimische Gegenjustiz in die Knie zu zwingen. Zugegeben, das ist nicht einfach und politisch überdies delikat. Die Justizhierarchen antizipieren nämlich, dass das Thema Missachtung der deutschen Rechtsordnung durch Muslime ihren Ministern unangenehm ist. Leichter und ohne Schaden kommen sie davon, wenn sie die islamische Paralleljustiz politisch korrekt totschweigen oder bagatellisieren. Das liegt nämlich auf der Linie der politisch Verantwortlichen.
Die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue etwa hat sich bisher vor jeder Stellungnahme zur Paralleljustiz gedrückt. Und der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty reduziert das Wirken von Streitschlichtern auf "Einzelfälle", obwohl er bis zur Amtsübernahme Anwalt in Essen war und der Essener Kriminalhauptkommissar Ralf Menkhorst aus seinem Arbeitsalltag weiß, dass Schlichtungen in Essen "gang und gäbe" sind. Die Tradition, Aspekte misslungener Integrationspolitik in Deutschland zu tabuisieren, wird hier um eine neue Facette bereichert.
Die islamische Paralleljustiz ist ebenso wenig ein Randproblem wie die überproportional hohe Belastung von Muslimen in den Kriminalitätsfeldern Gewaltkriminalität Jugendlicher, Intensivtäter, Drogenkriminalität und organisierte Kriminalität. Für eine effektivere Bekämpfung der Friedensrichter brauchen wir keine neuen Gesetze, sondern eine mutige und entschiedene Justiz. Mit anderen Worten: einen wehrhaften Rechtsstaat.
Joachim Wagner, Jahrgang 1943, ist Jurist und war bis 2008 stellvertretender Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, Berlin. Sein neues Buch ist "Richter ohne Gesetz" (Econ-Verlag).
Dieser Text ist der Ausgabe 2/212 des Magazins "chrismon" entnommen, das am 27. Januar erschien. Auf evangelisch.de war der Text am 20. Januar 2012 erstmals zu lesen.