Der Fall Wulff ist kein Stoff für eine "Basta"-Republik
Unter Bürgern, die Christian Wulff ungeachtet seiner eingestandenen Fehler weiter im Amt sehen wollen, wächst der Groll gegen eine investigative Presse. Die Unerlässlichkeit der Medien für die funktionierende Demokratie wird häufig nicht hinreichend verstanden. Eine Lektion der letzten Wochen: Öffentlich wird zu viel auf mögliche Verfehlungen der Presse geschaut, und zu wenig auf ihre eigentliche Aufgabe.
17.01.2012
Von Ralf Siepmann

An den Wänden im Empfangsraum des Zentralgebäudes der "Chicago Tribune" in Chicago ist auf einem der zahlreichen Reliefs dieser Satz eingeprägt: "If the people know the facts the country will be safe" - "Wenn die Menschen die Fakten kennen, ist unser Land sicher". Er stammt von Abraham Lincoln, dem 16. Präsidenten der USA. In der Causa Wulff bringt er, erstaunlich aktuell, einen zentralen Sachverhalt der Affäre auf den Punkt. Bürger sind besorgt wegen der Beschädigung unserer politischen Kultur und fühlen sich im Hinblick auf die Integrität des Bundespräsidenten "nicht sicher". In einer am 10. Januar veröffentlichten Erhebung für die ARD votierten 46 Prozent für den Rücktritt Wulffs. Ebenso viele befürworteten sein Verbleiben im Amt.

In der Bevölkerungsgruppe derjenigen, die sich für Wulff aussprechen, wächst zugleich Unwillen und Unverständnis gegenüber der Presse, die in der "Causa" recherchiert und die Transparenz aller Fakten herstellen möchte, die der Bundespräsident entweder zurückhält oder in homöopathischen Dosen öffentlich werden lässt. "Die Medienkampagne ist schon obskur", macht sich "Spiegel"-Leser Jörg Rausch aus Göttingen in einer Zuschrift an das Magazin Luft. Erwin Egler, Leser des "Bonner General-Anzeiger", fragt sich, "wie weit geht eigentlich diese Pressefreiheit? Dürfen diese Herrschaften ungehemmt in der Privatsphäre herumstochern und herumwühlen, um dann letzten Endes gewisse, für sie unbeliebte Persönlichkeiten aus dem Amt 'zu kegeln'?"

Die Analyse des eskalierenden Reizklimas im Lande macht eines deutlich: In der Öffentlichkeit wird augenscheinlich viel, vielleicht zu viel, auf potentielle Grenzüberschreitungen der Presse bei ihren investigativen Recherchen geschaut, mit Sicherheit aber zu wenig auf ihre eigentliche Aufgabe. Ein großer Teil der öffentlichen Debatten zumal in den ARD-Talkshows zeichnet sich durch eine auffällige Distanz zu den Rechtsnormen aus, die das Handeln der Kontrahenten, von Staats- und Presseorganen bestimmen (müssten), auch und gerade in der Diskussion um die Angemessenheit der Methodik der Medien.

Die Presse hat eine öffentliche Aufgabe

"Wie weit die Pressefreiheit geht" hat das Bundesverfassungsgericht in der Begründung seines "Cicero"-Urteils 2007 so gedeutet: "Die Freiheit der Medien ist konstituierend für die freiheitliche demokratische Grundordnung." Daraus folge die "Gewährleistung von Freiheitsrechten" für die im Bereich der Presse tätigen Personen und Organisationen. Rund 40 Jahre früher hat das höchste Gericht in seiner "Spiegel"-Entscheidung aus der grundrechtlichen "Funktion der freien Presse im demokratischen Staat" die "institutionelle Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung" abgeleitet und postuliert.

Die Landespressegesetze schreiben der Presse eine "öffentliche Aufgabe" und eine Kritikfunktion in Ausfüllung dieser Aufgabe zu. Die Presse wird rechtlich nicht zuletzt deswegen privilegiert - etwa bei Auskünften gegenüber Behörden -, weil sie staatliche Organe kritisiert. "Privilegien", sagt Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserats, seien der Presse nicht um ihrer selbst willen verliehen. "Dies gilt immer nur mit Bezug auf die Bürger und deren Mitwirkung an einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Kritische Politikbegleitung quasi in Ausübung der 'vierten Gewalt' bildet die vornehmste Pflicht der Presse."

"Schlussstrich-Mentalität" liegt quer zur Funktion

"Spiegel"-Leser Gernot Schulz aus Berlin ließ sich zur Affäre um den Hauskredit Wulffs unter Verweis auf dessen angebliche Vergabe durch die Frau des Unternehmers Geerkens so ein: "Basta. Um mehr geht es nicht." Natürlich schließt die Meinungsfreiheit auch Äußerungen von Bürgern gegen die investigative Presse ein, die sich aus purer Emotion speisen. Eine solche "Schlussstrich-Mentalität" liegt allerdings quer zur klassischen Funktion der Presse in einer Demokratie, die auf der Transparenz aller wichtigen Fakten zur Beurteilung von Themen und Personen beruht.

"Basta"-Kategorien sind mit ihr nicht vereinbar. Der Einzelne muss sehr viel mehr an medialem "Herumwühlen" tolerieren, als er persönlich vielleicht für zumutbar hält, denn Deutschland ist nicht Weißrussland oder Iran. Von welchem Faktenstand an ein "umfassendes Urteil" des Bürgers möglich sein könne, sei stets zu fragen, sagt Presserat-Geschäftsführer Tillmanns. "Doch ist es Aufgabe der Presse, nach journalistisch-handwerklichen, ethischen und rechtlich zulässigen Kriterien zu arbeiten und möglichst umfassend Transparenz herzustellen." Hierfür setze sich auch der Presserat mit seinem Pressekodex ein.

Es fehlt an Medienkompetenz

Anders als mancher "Wutbürger" glauben mag, bewegt sich die Presse ohnehin nicht willkürlich. Sie findet laut Artikel 5, Absatz 2 des Grundgesetzes "ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze […] und in dem Recht der persönlichen Ehre." Bei einer Kollision zwischen dem öffentlichen Interesse und der persönlichen Ehre des Einzelnen kann der Anspruch auf öffentliche Unterrichtung im Einzelfall ausschlaggebend sein. Dies gilt es jeweils abzuwägen, gegebenenfalls vor Gericht. Auch wenn eine scheinbar allzu mächtige "vierte Gewalt" dem Einzelnen fremd ist, hat er dennoch ein Anrecht darauf, gut und plausibel informiert zu sein, und zwar durch eine funktionierende Presse in der Demokratie.

Die "Causa" Wulff offenbart über den Tag hinaus ein erkennbar werdendes Versäumnis, das Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen anzulasten ist. Nicht auch der Presse selbst? "Gerade die Medien", findet Tillmanns vom Deutschen Presserat, "wirken durch gute journalistische Arbeit selbst mit an der Vermittlung von Medienkompetenz in der Gesellschaft." Womit sich der Kreis wieder schließt. Im Eingang des "Tribune"-Tower in Chicago ist auch dieses Credo des US-Dramatikers Arthur Miller dokumentiert: "Eine gute Zeitung, denke ich, bedeutet, dass eine Nation mit sich selbst redet." Mission, Wunschdenken, ewiger Auftrag? Vermutlich von allem etwas. Und nicht nur in den USA.


Ralf Siepmann ist Journalist und Kommunikationsberater in Bonn.