Was müssen unsere Pflegekräfte lernen?
"Pflege bald nur noch mit Abi?" Diese Frage taucht seit dem Jahresende immer wieder in den Medien auf, wenn es um die Frage geht, wer eigentlich in der Pflege arbeiten sollte – oder will. Dahinter steckt die Idee eines veränderten Berufsbildes, die auch die Ausbildung reformieren wird. In welche Richtung wird es gehen?
13.01.2012
Von Katharina Weyandt

Angestoßen wurde die Debatte um Pflegekräfte mit Abitur von einer EU-Richtlinie, die in Wirklichkeit weniger spektakulär "eine allgemeine Schulausbildung von zwölf Jahren oder eine bestandene Prüfung von gleichwertigem Niveau" fordert. Fast überall in Europa gilt diese Anforderung schon. Hierzulande regte sich aber heftiger Widerstand. Würde das nicht den Fachkräftemangel in der Pflege verschärfen? Es gibt immer mehr Alte und immer weniger Junge in Deutschland – der Bedarf an Pflege steigt, der Wettbewerb um Nachwuchs verschärft sich. Gerade erst hat die Diakonie das Portal "Soziale Berufe" ins Netz gestellt. Dort heißt es: "Deine Chance liest sich in Zahlen so: Im Jahr 2025 werden in Deutschland laut Hochrechnungen ungefähr 152.000 Mitarbeiter in Pflegeberufen fehlen, um alle Patienten und pflegebedürftige Menschen zu versorgen." Nach diesen Rechnungen sollen dann fast eine Million Menschen in der Pflege tätig sein.

Das Bild der Schulbildung der Pflegekräfte und -schüler ist heute sehr unterschiedlich. 2010 begannen in ganz Deutschland 22.000 Azubis eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege, ebenso viele in der der Altenpflege – mit sehr unterschiedlichen Abgangszeugnissen in der Tasche. Eine bundesweite Statistik dazu gibt es nicht. Schätzen lassen sich die Zahlen auf Basis der Daten in Nordrhein-Westfalen, denn auf dies große Bundesland entfällt fast ein Viertel der bundesweiten Ausbildungsplätze der Branche.

In Nordrhein-Westfalen hatten von 5.700 Anfängern in der Gesundheits- und Krankenpflege fast 3.200 Abitur oder Fachabitur, also über die Hälfte. Schon dreißig Pflegeschulen, etwa die der Hamburger Albertinen-Gruppe oder der Diakonie Kreuznach, bieten die Ausbildung verbunden mit einem Bachelor-Abschluss an und werden stark nachgefragt. Anders sieht es in der Altenpflege aus: Hier hatten zur gleichen Zeit von den 4.500 Neuen nur 500 mehr als den Realschulabschluss, also nur ein knapp ein Zehntel. Doch diese Ausbildung ist nicht im Visier der EU, weil es sie nur in Deutschland separat gibt.

Das Thema bewegt die Pflege-Community

Für die Betroffenen, die schon in der Pflege arbeiten, geht es um das Berufsbild der Pflege, um Anerkennung und Arbeitsbedingungen. Gute Einblicke bietet da der bald 30 Seiten lange Thread zur EU-Richtlinie auf krankenschwester.de, einer Online-Community für den Pflegebereich mit über 37.000 Mitgliedern.

Der Nutzer "Pflegeschüler1988" – mit dem ständigen Motto "Die Irrtümer des Arztes liegen unter der Erde" - brachte das Thema am 23. November 2011 ein, als der Gesundheitsausschuss im Bundestag sich gegen die EU-Richtlinie ausgesprochen hatte. Poweruser "Elisabeth Dinse" reagierte gleich: "Nur in D sieht man Pflege auch im Jahre 2011 noch unter dem Satz von Norbert Blüm: Pflegen kann jeder. [...] Hinzu kommt die mangelnde Vergütung von zusätzlich erworbenem Fachwissen. Das scheint mittlerweile ja sogar Hauptschüler abzuschrecken." Etwas später zitiert sie einen Vorschlag für eine neu strukturierte Pflegeausbildung: "Pflegefachpersonen" sollen in vier verschiedenen Stufen ausgebildet werden: in zwei oder vier Jahren, mit Bachelor-Abschluss oder Master. Der Vorschlag wurde schon im Jahr 2000 in einer Studie der Bosch-Stiftung diskutiert - warum ist er wieder in der Versenkung verschwunden?

Die Bereichsmoderatorin "Claudia" mischt sich ein mit ihrer ironischen These: "Pflege weiß eine Menge, und sie hat eine Menge zu sagen. Aber sie weiß nicht, wie sie sich ausdrücken soll. Höher qualifiziertes Personal hätte diese Kompetenzen. Aber auwei - dann würde ja Druck auf die Politik ausgeübt. Dann lassen wir doch lieber alles so, wie es ist, bisher lief's doch so ganz gut." Die Debatte geht lebhaft weiter, 300 Kommentare und 10.000 Klicks später ist klar: das Thema bewegt die Pflege-Community. Viele Teilnehmer berichten von persönlichen Erfahrungen: "Ich selbst bin froh, meine Ausbildung mit Abi im Vorfeld gemacht haben zu dürfen - gerade die Belegung BioLK und Latein haben mir viel Lernlast abgenommen", berichtet der Nutzer "Advitamaeternam". Andere geben zu bedenken, dass die Abiturienten oft nicht im Beruf blieben.

Akademische Pflegekräfte arbeiten nicht nur am Schreibtisch

Fernsehstatements von Gesundheitsminister Daniel Bahr und den Gesundheitsexperten Johannes Singhammer (CSU) und Dr. med. Karl Lauterbach (SPD), die sich gegen die EU-Richtlinie aussprechen, weil man in der Pflege vor allem soziale Kompetenz brauche, stoßen nicht auf Gegenliebe: "Gezielte Verkürzung und Falschinformationen" schimpft "bisauf". Er oder sie arbeitet in Dänemark und kann daher detailliert über die Pflege in einem Land berichten, das schon eine zwölfjährige Schulbildung für die Pflege voraussetzt. Denn bisher sind deutsche Pflegekräfte mit ihrer Ausbildung noch im Ausland anerkannt.

"Bisauf" platzt der Kragen: "Das, was den deutschen Pflegekräften als Teufelswerk verkauft wird, ist in 20 Ländern Europas seit vielen Jahren gang und gäbe und wird mit gutem Erfolg praktiziert. Deutschland liegt da weit zurück und wird noch weiter zurückfallen, wenn die Pflegekräfte da nicht aufpassen. Und zum tausendsten Mal: NEIN, AKADEMISCHE PFLEGEKRÄFTE ARBEITEN NICHT NUR AM SCHREIBTISCH!"

"Das Anliegen der EU geht in die richtige Richtung, auch wenn es den Politikern nicht passt", meint Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe im Telefonat mit evangelisch.de. Sie verweist auf die gestiegenen Anforderungen an die Pflegekräfte, durch alte Patienten, die viele Krankheiten gleichzeitig haben, durch den technischen Fortschritt, durch immer kürzere Liegezeiten nach einer Behandlung. Sie berichtet aus den Krankenpflegeschulen, dass es schon heute eine Spaltung zwischen unterforderten Schülern und den eher überforderten gebe. Schwierig werde es, "wenn sie die Prozentrechnung nicht verlässlich beherrschen, um eine Medikamentendosierung auszurechnen, oder nicht fehlerfrei formulieren können, aber zahlreiche Berichte und Dokumentationen erledigen müssen."

Fachleute und Fachkräfte teilen eine Vision

Trotz der Proteste werde die Richtlinie aber beschlossen werden, sagt Knüppel, mit einer Umstellungsfrist bis Anfang 2014. "Pflege nur mit Abi" werde es dann wohl immer noch nicht geben, aber vielleicht eine berufsvorbereitende "Oberschule" für die Pflege nach den schon jetzt gültigen zehn allgemeinbildenden Jahren.

Renate Gamp, Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenhilfe und Pflege, fordert, "die Ausbildung selbst neu zu konzipieren: moderner, in Module strukturiert und zum allgemeinen Bildungssystem durchlässig, was neue Karrierewege eröffnet." Das würde mit einer "generalistischen" Pflegeausbildung erreicht. Das heißt, alle lernen die Grundlagen der Pflege gemeinsam und spezialisieren sich danach, etwa auf Altenpflege. Eigentlich war diese Reform schon im Koalitionsvertrag der Bundesregierung versprochen. Von engeren Zugangsvoraussetzungen im bisherigen Ausbildungssystem hält Gamp angesichts des tatsächlichen Fachkräftemangels nichts.

Die gemeinsame Vision der Fachleute aus den Verbänden und den Pflegekräften, die sich im Internet Gehör verschaffen, sieht so aus, wie "renje" im Forum schreibt: "Dieser Weg muss durchlässig sein für alle, vom Hauptschulabschluss bis zur Promotion."


Katharina Weyandt arbeitet als freie Journalistin für evangelisch.de und betreut den Kreis "Wenn die Eltern älter werden" in unserer Community.