Nigeria: Armut lässt sich nicht wegbomben
Zu Weihnachten wurden in Nigeria Anschläge auf christliche Kirchen verübt. Boko Haram, eine islamische Sekte, hat sich dazu bekannt. Doch das Problem ist nicht nur ein Konflikt zwischen Muslimen und Christen, es ist vielfältiger. In Nigeria sind die meisten Menschen arm und viele enttäuscht - ein Nährboden für Gewalt und Terror.
12.01.2012
Von Bettina Rühl

Er zeigt sich kriegerisch: Flankiert von zwei Kalaschnikows spricht der Anführer der nigerianischen Terrorgruppe Boko Haram in die Kamera. Abubakar Shekau trägt für sein erstes Video, das auf YouTube veröffentlicht wurde, ein rot-weißes Palästinensertuch als Turban und eine Schutzweste in Militärfarben. Shekau verteidigt die jüngsten Anschläge auf Christen in Nigeria. Er spricht von Vergeltung "für das, was Christen uns angetan haben".

Shekau sagt, er reagiere mit seiner Botschaft auf den nigerianischen Präsidenten Goodluck Jonathan, der selbst Christ ist. Und auf Ayo Oritsejafo, den Vorsitzenden der Christlichen Vereinigung Nigerias, des Dachverbands der wichtigsten Kirchen im Land. Oritsejafo hatte am Wochenende erklärt, die Christen würden sich künftig selbst verteidigen. An Weihnachten waren bei Anschlägen auf Kirchen fast 50 Menschen getötet worden. Seitdem reißt die Gewalt nicht ab.

Die islamische Sekte Boko Haram ist zu einer Bedrohung für ganz Nigeria geworden, wenn nicht sogar darüber hinaus. Die Gruppe, deren Namen grob übersetzt bedeutet "Westliche Bildung ist verwerflich" soll Kontakte zum Terrornetzwerk Al-Kaida haben. Im vergangenen Jahr hat sie mehr als 500 Menschen getötet. Opfer sind Christen, aber auch Muslime in Nordnigeria, und Sicherheitskräfte. Nun sind auch Muslime Zielscheiben, die im überwiegend christlichen Süden des Landes leben. Die Identität der Hintermänner ist noch völlig unklar.

Nigerias Norden ist völlig unterentwickelt

Auf den ersten Blick scheint die Gewalt im bevölkerungsreichsten Land Afrikas religiös motiviert. Doch Nigeria-Experten warnen vor zu schnellen Urteilen. "Es gibt alle möglichen Trittbrettfahrer, die sich im Namen von Boko Haram zu Gewalttaten bekennen", sagt der Kölner Publizist Heinrich Bergstresser, der viele Jahre lang das Westafrika-Programm der Deutschen Welle leitete.

Zudem sei Boko Haram keine homogene Gruppe. "Es gibt keine klare Kommandostruktur, sondern alle möglichen Fraktionen", betont Bergstresser. Wer tatsächlich hinter den einzelnen Gewalttaten stecke, sei kaum zu durchschauen.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen des nigerianischen Geheimdienstes SSS. Der Dienst erklärte nach einem Bericht der "New York Times" im November 2011, mindestens vier "kriminelle Syndikate" operierten unter dem Namen "Boko Haram". Drei davon würden von Nigerianern aus dem Süden geführt. Anfang des Jahres verhaftete der SSS einen Christen, der ein traditionelles muslimisches Gewand trug und eine Kirche im ölreichen Niger-Delta im Süden in Brand setzen wollte.

Im Norden Nigerias trat Boko Haram zuerst in Erscheinung. Die Region ist besonders von Armut und Unterentwicklung geprägt. "Die Regierung hat die Folgen des Bevölkerungswachstums völlig unterschätzt", sagt der Nigeria-Experte Bergstresser. In 20 Jahren hat sich die Gesamtbevölkerung des Landes auf 160 Millionen Menschen fast verdoppelt. Aber die Regierungen taten nichts, um Jobs zu schaffen.

Enttäuschte suchen ihr Heil im Extremismus

Während der Süden Nigerias zwar viel zu wenig, aber immerhin etwas von den Erdöl-Einnahmen profitiert, ist die Lage im Norden trist. Teile gehören schon zur trockenen Sahelzone am Rand der Sahara. Wer dort geboren ist, weiß, dass er praktisch keine Zukunft hat. 20 Millionen junge Leute haben nach offiziellen Zahlen keine Arbeit. Und es werden von Tag zu Tag mehr, die Jobs brauchen: Etwa 40 Prozent der Nigerianer sind jünger als 15 Jahre.

Nigeria stand jahrzehntelang unter Militärdiktatur. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1999 unterstützten viele Nordnigerianer muslimische Politiker. Sie hofften, dass diese einer islamischen Gerechtigkeit verpflichtet seien und die verzweifelte Lage der Bevölkerung verbessern würden. Doch die Hoffnung trog. In zwölf Bundesstaaten im Norden führten zwar Gouverneure das islamische Recht, die Scharia, ein - aber sie bereicherten sich genauso wie ihre Vorgänger. An der Armut änderte sich nichts. Nun suchen viele enttäuschten Bürger ihr Heil im Extremismus.

Dort treffen sie auf alte Bekannte: Offenbar finanzieren "Paten" aus dem politisch-islamischen Establishment nun gewalttätige Banden. Sie hoffen, sich gleichsam "an die Macht zurückzubomben", wie Bergstresser erläutert. Die steigende Präzision der Anschläge, zu denen sich Boko Haram zuletzt bekannte, gilt als Indiz dafür, dass die Gruppe vom Geheimdienst und anderen staatlichen Stellen durchsetzt ist. Das glaubt auch Präsident Jonathan: Er warnte Anfang der Woche, es gebe auch Boko-Haram-Anhänger bei Armee und Polizei. 

epd