Haiti: Die Republik der Hilfsorganisationen
Armut und politischer Stillstand lähmen das Land in der Karibik nicht erst seit dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010. Für den Wiederaufbau Haitis sind es denkbar schlechte Voraussetzungen.
11.01.2012
Von Matthias Knecht

Noch immer lebt eine halbe Million Menschen in Zelten. Haiti laviert zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben mit 225.000 Toten von einer Krise in die nächste. Eine geschwächte Regierung, zunehmende Alltagsgewalt und zögernde Investoren lassen den erhofften Wiederaufbau in weite Ferne rücken. Geschwächt wird das Land zudem durch die von UN-Blauhelmsoldaten vor mehr als einem Jahr eingeschleppte Cholera-Epidemie. Sie flackert immer wieder auf, fast 7.000 Menschen starben bislang.

4,5 Milliarden US-Dollar erhielt Haiti seit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 an humanitärer Hilfe aus dem Ausland. Dennoch ist fast die Hälfte der neun Millionen Einwohner unterernährt. 70 Prozent der arbeitsfähigen Menschen sind unterbeschäftigt oder arbeitslos. Millionen leben von den Heimüberweisungen ausgewanderter Angehöriger.

Einkommen schaffen lediglich die mit Hilfsgeldern finanzierten sogenannten Cash-for-Work-Programme, bei denen Einheimische, die sich am Wiederaufbau beteiligen, Bargeld für ihre Arbeit erhalten. "Haiti wird zur Republik der Hilfsorganisationen", bemerkte dazu sarkastisch die Tageszeitung "Nouvelliste".

Präsident Martelly hatte viel versprochen

Ein Grund für die zähe Bewältigung der Katastrophe ist die permanente politische Krise. Sie schlug sich in den chaotischen und von Betrugsvorwürfen überschatteten Wahlen des vergangenen Jahres nieder. Auch die Hoffnungen, die die Menschen in den seit Mai amtierenden Präsidenten Michel Martelly setzten, erfüllten sich bisher nicht.

Versprochen hatte Martelly kostenlose Schulen, Arbeitsplätze, Rechtsstaatlichkeit und Umweltschutz. Stattdessen rang er fünf Monate lang mit dem Parlament, um im dritten Anlauf im Oktober einen Premierminister ernennen zu können, Garry Conille. "Der Präsident ist geschwächt durch das Gerangel um den Premierminister", urteilt Hans Maier, Haiti-Experte des katholischen Hilfswerks Misereor.

Zur politischen und wirtschaftlichen Krise kommt die zunehmende Kriminalität. Entführungen und Morde mehren sich, nicht selten ist daran laut Menschenrechtsorganisationen die Polizei beteiligt. Bereits im Oktober hatte die "International Crisis Group Haiti" dazu aufgerufen, die dringend notwendige Reform von Polizei und Justiz anzugehen. Andernfalls seien Wiederaufbau und Entwicklung des Landes gefährdet.

"2012 wird ein entscheidendes Jahr für Haiti"

Verantwortung für die lähmende Situation in Haiti tragen Maier zufolge aber auch die ausländischen Helfer. Denn im Prinzip gut gemeinte Hilfen wie importierte Fertighäuser oder tonnenweise eingeführte Lebensmittel torpedierten die Eigeninitiative der Menschen und schwächten die ohnehin darbende Landwirtschaft. Die Empfängermentalität in Haiti sei seit dem Erdbeben leider verstärkt worden, kritisiert Maier.

Misereor achte deshalb darauf, die Bevölkerung bei seinen Programmen einzubinden. Beispiele sind Häuser aus lokalen Materialien oder Schulen, die unter Beteiligung der Familien geplant und gebaut werden. "Wir bestärken die Menschen darin, selbst aktiv zu werden", betont der Theologe und Soziologe.

Deutlich optimistischer als Maier schätzt die deutsche Haiti-Expertin Elke Leidel die Lage des Landes ein. "Es ist einiges erreicht worden", sagt die Mitarbeiterin der europäischen humanitären Hilfe (ECHO), die bereits vor der Katastrophe im Land lebte. ECHO hat seit dem Beben für 165 Millionen Euro Nothilfe geleistet. Leidel lobt besonders die zunehmend konstruktive und professionelle Zusammenarbeit mit Haitis Behörden und anderen Hilfswerken. Sie hofft, dass das in diesem Jahr noch sichtbare Früchte trägt: "2012 wird ein entscheidendes Jahr für Haiti. Ich hoffe, dass diese Chance genutzt wird." 

epd