"Für Ultraorthodoxe geht es um Sein oder Nichtsein"
Nach Ansicht des Rabbiners Shlomo Tikochinski werden die ultraorthodoxen Juden in Jerusalem immer radikaler. Sie befinden sich in einem "Überlebenskampf", sagt Tikochinski, der am Van-Leer-Institut forscht und Geschichte des jüdischen Volkes lehrt. Tikochinski bezeichnet sich selbst als ultraorthodox, gemeinsam mit weltlichen Juden demonstrierte er allerdings in der Stadt Beit Schemesch gegen den zunehmenden Fundamentalismus
10.01.2012
Die Fragen stellte Susanne Knaul

Wer verbirgt sich hinter der ultraorthodoxen Gruppe der "Sikrikim", die ein achtjähriges Mädchen anpöbeln, weil es angeblich nicht züchtig gekleidet ist?

Shlomo Tikochinski: Der Begriff "Sikrikim" stammt aus dem ersten Jahrhundert und bezeichnet eine rebellische jüdische Gruppe, die gegen die römische Besatzung kämpfte. Heute werden religiöse Fundamentalisten so bezeichnet. Gemeint sind gewalttätige und antizionistische junge Männer aus dem Jerusalemer Stadtviertel Mea Schearim. Die Gruppe ist nicht organisiert und hat keine spirituelle Führung. Der Hauptgrund für ihre Ausschreitungen ist Langeweile. Sie leben von den Spenden aus Stiftungen oder dem Geld reicher Gemeinden in den USA. Jeder Tag in zionistischer Untersuchungshaft wird hoch belohnt. Sie lassen sich den Vandalismus gegen den Staat Israel bezahlen.

Warum fanden die jüngsten Übergriffe in der Stadt Beit Schemesch statt?

Tikochinski: Mea Schearim ist für die Ultraorthodoxen zu eng geworden. Deshalb wurden vor rund 20 Jahren Wohnungen für junge ultraorthodoxe Familien in Beit Schemesch gekauft. Dort sind die Männer noch radikaler geworden. Sie sagen: "Wir werden den Charakter von Mea Schearim bewahren, wir bauen hier ein neues Mea Shearim auf, das noch fundamentalistischer ist."

[listbox:title=Mehr im Netz[Lesen Sie auch das chrismon.de-Interview mit der Filmemacherin Anit Zuria: "Radikale in Israel: Immer schön hinten sitzen"]]

Wie kommt es, dass die Geschlechtertrennung plötzlich so wichtig wird?

Tikochinski: Es ist ein schleichender Prozess. Schon seit mehr als zehn Jahren fahren einige öffentlichen Buslinien, genannt Mehadrin-Busse, zwischen Gebieten mit ultraorthodoxer Bevölkerung. Die Initiative für die Geschlechtertrennung in den Bussen kam von den sogenannten Chassidei Gur. Obwohl diese Gruppe sonst gut in die Gesellschaft integriert ist, verhält sie sich bei Fragen der Geschlechtertrennung besonders radikal. Viele sind Anwälte oder Geschäftsleute. Aber bei der Geschlechtertrennung gehen sie mit ihren Verhaltensregeln weit über das jüdische Recht hinaus. Sie unterhalten schon jetzt getrennte Gesundheitseinrichtungen und Läden mit separaten Einkaufstagen für Männer und Frauen. Wenn man bei der Geschlechtertrennung nicht auf die Bremse tritt oder einen klaren Standard festlegt, werden die Fundamentalisten sie immer weiter vorantreiben.

Warum treten die Ultraorthodoxen, die nicht zu den Chassidei Gur gehören, nicht schon längst auf die Bremse?

Tikochinski: Es findet insgesamt eine Radikalisierung unter den Ultraorthodoxen statt. Die Chassidei Gur haben hier ihre Chance erkannt. Die religiöse Idee, die hinter der Geschlechtertrennung steht, wird von den Ultraorthodoxen prinzipiell nicht in Frage gestellt. Der Mann soll nicht in Versuchung geführt werden, denn der sexuelle Trieb entfernt den Menschen von Gott. Darin sind sich alle einig. Meinungsunterschiede gibt es über den Weg. Die Geschlechtertrennung ist in der Praxis lästig. Die hinteren Busreihen sind unbequemer und unruhiger. Das ist für schwangere Frauen oft schwierig, die gegen Übelkeit kämpfen. Manchmal ist nicht genug Platz und die Frauen bitten die Männer, sich umzusetzen.

"Seit 200 Jahren

befinden sich die Ultraorthodoxen

in einem Überlebenskampf."

 

So strikt ist die Geschlechtertrennung dann also doch nicht, wenn Frauen und Männer über Sitzplätze verhandeln?

Tikochinski: Auf absurde Weise finden heute in den Mehadrin-Bussen viel mehr Diskussionen zwischen den Geschlechtern statt als in normalen Bussen. Ich bin überzeugt davon, dass die Mehrheit der Ultraorthodoxen die Geschlechtertrennung missbilligt. Trotzdem ist man vorsichtig, hat Angst vor der Reaktion der Fundamentalisten und will sich nicht offen gegen die Rabbiner wenden. Leider mangelt es den Rabbinern oft am größeren Überblick und Perspektiven. Die Praxistauglichkeit der religiösen Regeln ist für sie zweitrangig. Zuallererst gilt es, das orthodoxe Judentum zu erhalten. Seit 200 Jahren befinden sich die Ultraorthodoxen in einem Überlebenskampf. Das führt zur Verunsicherung, fast zur Hysterie.

Warum Überlebenskampf? Die Gruppe der Ultraorthodoxen wird doch permanent größer.

Tikochinski: Die ideale jüdische Gesellschaft ist die osteuropäische, wo Juden über Hunderte von Jahren strikt nach jüdischem Recht lebten. Dieses Ideal ist das Ziel. Alle Juden sollen ultraorthodox werden, so wie es früher war. Dabei führt der Weg direkt zurück bis zu Moses. Der Gedanke ist: Heute sind wir zwar in der Minderheit, aber wir bleiben auf dem Weg.

Eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft?

Tikochinski: Ich bete und setze mich seit Jahren dafür ein, dass sich die Ultraorthodoxen für die israelische Gesellschaft öffnen, was auch passiert. Immer mehr von ihnen gehen zur Armee und lernen Berufe. Allerdings machen sie jetzt plötzlich fünf Schritte zurück. Es geht nicht nur um Busse und um die Geschlechtertrennung, sondern um das Sein oder Nichtsein, darum, ob man in dem jüdischen Staat ultraorthodox sein kann. So wird es in den ultraorthodoxen Medien dargestellt, deshalb kommt es zu dem Missbrauch von Judenstern und KZ-Uniform. Der Konflikt ist außer Kontrolle geraten. Auch die Ultraorthodoxen, die in die Gesellschaft integriert sind, stellen sich inzwischen hinter die Fundamentalisten. Sie empfinden die Angriffe der weltlichen Juden als Angriff auf die Gemeinde der Ultraorthodoxen insgesamt.

Warum melden sich nicht wenigstens die Politiker stärker zu Wort?

Tikochinski: Die Politiker haben das Feuer nur noch angeschürt. Die ultraorthodoxe Partei braucht Wähler. Seit vier Wahlperioden steckt ihre Partei, die Agudat Israel, bei fünf Mandaten fest, dabei hat sich die Wählerschaft verdreifacht. Für die Politiker bringt der Konflikt nur Profite.

Sehen Sie einen Ausweg aus der Misere?

Tikochinski: Im Moment bin ich recht verzweifelt. Seit Jahren sind die Ultraorthodoxen in einem Prozess der Integration und jetzt diese Kehrtwende. Das Thema wird früher oder später aus den Schlagzeilen verschwinden, aber die Erde ist verbrannt. Die liberalen Ultraorthodoxen sind wieder radikaler geworden. Es gibt eine Einheit der Verfolgten.

epd

Rabbiner Dr. Shlomo Tikochinski forscht am Van-Leer-Institut in Jerusalem und lehrt Geschichte des jüdischen Volkes.