Neubeginn oder Untergang des Nachrichtenjournalismus - zwischen diesen Polen sollte sich die Debatte in dem Kongress des Deutschlandfunks anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Programms bewegen. Tatsächlich kreisten die Diskussionen um die inflationsartige Vermehrung von Quellen, die soziale Netzwerke dem traditionellen Medium verschaffen. Der mögliche Abstieg von Medien mit Qualitätsanspruch kam nur als quasi satirisches Szenario vor. Dabei ist er tatsächlich eine Option.
"Washington. Barack Obama ist erwartungsgemäß zum Kandidaten der Demokraten für die Präsidentschaftswahl am 6. November nominiert worden. Dazu meint unser Facebook-Follower Daniel Kositzki aus Gau Bickelheim, er sei von einer Wiederwahl Obamas überzeugt. Hingegen postet uns Laura Müller-Schneidenbeck aus Monschau/Eifel, sie halte ein Scheitern des Präsidenten für wahrscheinlich." Karikatur oder demnächst tatsächlich eine nicht untypische Nachricht im öffentlich-rechtlichen Radio?
Beim Kongress "Der Ort des Politischen in der digitalen Medienwelt“ im Funkhaus des DLF wurde eines jedenfalls deutlich: Die Verschmelzung von professionellen und privaten Öffentlichkeiten im Zuge der Konvergenz von klassischen Medien und Web 2.0 ist keineswegs abwegig. Der digitale Tsunami, der alle etablierten Medien überspült, schwappt selbst zu den Nachrichten über, dem Grundstandard der Information schlechthin.
Twitter und Facebook sind kein Ersatz
"Neubeginn oder Untergang des Nachrichtenjournalismus?“ Vielleicht eine Spur zu dramatisch etikettiert erschien der Kölner Workshop. Immerhin fand er am Samstagvormittag ein beachtliches, zudem sehr heterogenes Publikum – vom jungen Online-Radioreporter bis hin zum scheinbar gestrigen "Einschalthörer“, der nach wie vor Funknachrichten mit einem Sprecher im Studio schätzt. Das Plenum lernte neue Begriffe wie "Mikro-Content“ oder "Nano-Stories“ kennen und bekam einen Vorgeschmack von dem, was Bodo Hombach, Geschäftsführer der WAZ Mediengruppe, in seiner Keynote als "dritte Stufe der Öffentlichkeit“ benannte.
Mit der Konvergenz der Medien, lieferte Jan-Hinrik Schmidt vom Hamburger Hans-Bredow-Institut die Steilvorlage, entstehe die "Konvergenz von Konversation und Politik". Diese könne sich durchaus als neue journalistische Leistung durchsetzen. Ante portas also ein neues Nachrichtenformat: winzige Konstrukte, in denen sich "Inhalte top down" (Wilfried Rütten, Direktor des European Journalism Centre, Maastricht) mit Sichtweisen "bottom up" vermengen - der klassische redaktionelle Journalismus und die verteilte Nutzer-Meinung aus dem Netz..
Schmidt trat der hier und da aufkeimenden Sorge entgegen, eine Melange von "offiziell“ und "informell" könne sich zum Standard des Nachrichtenjournalismus von morgen aufschwingen. "Die professionellen Medien werden dadurch nicht ersatzlos fallen", beschwichtigte er beunruhigte Zuhörer: "Die 20-Uhr-Ausgabe von Twitter oder Facebook wird es niemals geben." Früher oder später müsse jedoch die medienpolitische Frage beantwortet werden, wie unter der Konvergenz die demokratische Öffentlichkeit gesichert werden könne. "Im Hintergrund der neuen Öffentlichkeit", gab Schmidt zu bedenken, "agieren Plattformen mit kommerziellen Interessen."
Leserreporter nicht in Nachrichtenformate einführen
Marco Bertolaso, Leiter der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks, pocht für alle Fälle auf die Unverzichtbarkeit des professionellen Nachrichtenjournalismus. "Ich würde niemandem raten", argumentiert er im Gespräch, "über den Umweg der Sozialen Medien den Lesereporter in Nachrichtenformate einführen. Etwas anderes sind neue Formen der Einbeziehung von Hörern und Nutzern, etwa als Korrektiv unserer Arbeit."
Das öffentlich-rechtliche Radio hat sich nach der Instrumentalisierung des Hörfunks durch das Nazi-Regime in mehr als sechs Jahrzehnten als eine Schlüsselinstanz der demokratischen Informationskultur etabliert. Verlässliche, in Inhalt und Form professionell produzierte Nachrichten sind die DNS dieser Infrastruktur. Nach einer TNS-Infratest-Studie von 2011 im Auftrag der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM) kommt dem Radio mit einem Anteil von 18 Prozent nach TV (40 Prozent) und Tageszeitung (22 Prozent) ein beachtliches Gewicht für die politische Meinungsbildung der Deutschen zu – noch vor dem Web (16 Prozent).
In der Gruppe der 14-bis 29-jährigen behauptet sich der Hörfunk im Ranking der Informationsmedien nach dem Fernsehen (59 Prozent) mit einem Anteil von 42 Prozent vor dem Internet (40 Prozent) noch stärker. Kein Wunder, dass Programmchefs in Social Media eine Chance sehen, ein junges Publikum in Sicht-, besser Hörweite zu behalten oder überhaupt zu gewinnen.
Viel mehr unmittelbare Quellen als früher
Längst eine Erfolgsgeschichte im digitalen Medienhandbuch stellt aber die immense Ausweitung der Quellenlage für journalistische Nachrichten durch die Akteure der neuen Öffentlichkeit dar. Paul Lewis, leitender Redakteur des englischen "Guardian", illustrierte dies mit der satirischen Anspielung, es gebe zwar immer weniger bezahlte Journalisten, aber dank Smartphones und Twitter immer mehr Journalismus in der Welt. Den Informationsgewinn für die Redaktion beschrieb er am Beispiel der Rebellion von Jugendlichen im August in englischen Städten.
Lewis sprach von einem "Journalismus der Kollaboration". Über Twitter hätten Menschen der Redaktion von Geschehnissen berichtet, die sich unmittelbar vor ihrer Haustür abgespielt hätten. "Mit Hilfe von Social Media konnten wir die Basis unserer Recherchen deutlich ausweiten. So viele Reporter kann eine einzelne Zeitung sonst niemals aufbieten." Allein in den vier Tagen der Unruhen sei die Zahl der Twitter-Follower des "Guardian" um 30.000 gestiegen.
Ralf Siepmann arbeitet als freier Journalist in Bonn.