Zehn Jahre "Schandfleck Gitmo" und kein Ende in Sicht
Guantánamo - die einen halten es für eine Schande, die anderen für eine Notwendigkeit zum Schutz der Nation. Obama hätte das Lager gern dichtgemacht, aber er kapituliert vor den Widerständen. Jetzt gibt es "Gitmo" schon zehn Jahre - eine Schließung liegt in weiter Ferne.
06.01.2012
Von Gabriele Chwallek und Konrad Ege

US-Präsident Barack Obama spricht nur noch selten von Guantánamo Bay. Das war vor vier Jahren ganz anders. Da geißelte der Wahlkämpfer Obama die andauernde Internierung Hunderter Terrorverdächtiger ohne Gerichtsverfahren immer wieder als "trauriges Kapitel in der US-Geschichte", versprach er, im Fall seines Sieges das international als Schandfleck kritisierte Lager dichtzumachen. Der Schutz der Nation und die Achtung der Menschenrechte müssten und dürften sich nicht gegenseitig ausschließen.

Aus den Versprechen ist nichts geworden. Im Gegenteil. Am 11. Januar besteht "Gitmo" schon zehn Jahre, und der Präsident hat just ein Gesetz unterzeichnet, das weiterhin grünes Licht für die unbegrenzte Gefangenschaft Terrorverdächtiger auch ohne Prozesse gibt. Damit ist klar: Das Lager auf Kuba bleibt auf lange Sicht bestehen.

Menschenrechtler und liberale Kreise haben dagegen protestiert, Ben Wizner von der größten US-Bürgerrechtsorganisation ACLU etwa spricht von einem "neuen krassen Bruch mit der Rechtsstaatlichkeit". Aber sonst blieb es weitgehend still, auch im Ausland, das sich doch während der Bush-Ära häufig lautstark über das rechtliche Niemandsland für Amerikas Terrorgefangene entrüstet hatte. Wie es scheint, ist mittlerweile so etwas wie Gewohnheit eingekehrt. Und so müssen wohl auch weder die geistigen Architekten noch die heutigen Verwalter des Lagers befürchten, dass sie zum "Jubiläum" auf breiter Front als Menschenrechtsverletzer an den Pranger gestellt werden.

Gefangenschaft mit offenem Ende

In orangefarbene Overalls gekleidete Häftlinge knien im Camp X-Ray auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba. Foto: dpa/Shane T. McCoy/US Navy

Es war der 11. Januar 2002, genau vier Monate nach den Anschlägen vom 11. September, als die ersten 20 Gefangenen im amerikanischen Antiterrorkampf aus Afghanistan in das Lager gebracht wurden. Auf Bildern des US-Fernsehens sah man sie dort im Camp X-Ray auf dem Boden knien, in Käfigen, wie man sie sonst aus dem Zoo kennt. Die Drahtgehege gehören längst der Vergangenheit an, auch ist die Zahl der Insassen deutlich geschrumpft. Aber immer noch 171 Gefangene aus über 20 Ländern wurden nach Pentagon-Angaben Ende 2011 in Guantánamo festgehalten. Insgesamt waren es seit Anfang 2002 knapp 780, ein großer Teil aus dem Jemen.

Im Laufe der Jahre transferierten die USA mehr als 600 Gefangene in andere Staaten, so auch nach Deutschland. Lediglich sieben Guantánamo-Häftlinge wurden bisher verurteilt – sechs von ihnen von einer der umstrittenen Militärkommissionen, die der Republikaner George W. Bush eigens für Verfahren gegen die "Gitmo"-Terrorverdächtigen geschaffen hatte.

Noch heute steht Guantánamo für Willkür im "Krieg gegen den Terrorismus". Ein Jahrzehnt nach dem Eintreffen der ersten 20 Gefangenen am 11. Januar 2002 planen Menschenrechtler zahlreiche Protestaktionen. Die Anti-Folter-Expertin der "Ärzte für Menschenrechte", Kristine Huskey, forderte die Schließung von Guantánamo. Es sei "illegal und unmoralisch", Menschen auf unbegrenzte Zeit und ohne Prozess festzuhalten.

Schlafentzug, Schläge, Fesseln und Lärmbeschallung

In Guantánamo habe die Furcht vor dem Terrorismus "unsere Werte" überwältigt, klagte der Direktor des "Nationalen religiösen Verbandes gegen Folter", Richard Killmer. Die Haftbedingungen im Lager hätten sich seit 2002 anscheinend verbessert, berichtete jüngst Amnesty International. Das "System Guantánamo" habe sich jedoch gefestigt.

US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld besuchte Guantánamo und erklärte, die Taliban- und Al-Kaida-Gefangenen würden dort menschlich behandelt. Rumsfelds Behauptungen allerdings ließen sich nicht halten. Ehemalige Häftlinge berichteten über unmenschliche Behandlung, Schlafentzug, Schläge, Fesseln in Stresspositionen und Lärmbeschallung. Viele Gefangene seien vor ihrer Verlegung nach Guantánamo in geheimen CIA-Gefängnissen und im US-Stützpunkt im afghanischen Bagram gefoltert worden, unter anderem mit Waterboarding, hieß es.

Im April 2011 veröffentlichte die Enthüllungsplattform Wikileaks Hunderte Dokumente zu Guantanamo. Diese bestätigten, dass viele Gefangene auf falscher Grundlage inhaftiert worden seien, erklärte der Journalist Andy Worthington, Autor von "Guantanamo Files". Viele seien nur "unbedeutende Taliban-Rekruten".

Die Obama-Administration will Dutzenden der noch verbliebenen Gefangenen den Prozess machen, Dutzende weitere sollen freigelassen werden, wenn sich denn Aufnahmeländer finden. Aber wie etwa die Organisation Amnesty International betont, machte die Regierung auch 48 Gefangene aus, die weder vor eine Militärkommission gestellt noch auf freien Fuß gesetzt werden sollen. Man hält sie für gefährlich, aber die Beweise reichen für einen erfolgversprechenden Prozess nicht aus. Das bedeutet Gefangenschaft mit offenem Ende – auch unter Obama.

Obama war von Idealismus beseelt

"Es ist eine traurige Geschichte mit vielen Autoren", sagt Wizner von der ACLU. Wie viele andere Kritiker des Präsidenten in dieser Frage spricht er Obama den guten Willen zur Schließung des Lagers und Abschaffung der Militärtribunale nicht ab. Aber er lastet ihm "eine Menge verpasster Gelegenheiten" während der ersten Monate im Amt an – als seine Demokraten noch beide Häuser des Kongresses beherrschten.

Weltweit hatten Menschenrechtler gejubelt, als Obama gemäß seinem Wahlkampfversprechen kurz nach Einzug ins Weiße Haus die Tribunale aussetzte und "Gitmos" Schließung binnen eines Jahres ankündigte. Aber dann wurde rasch klar, dass der von liberalem Idealismus beseelte Präsident die Widerstände im eigenen Land und wohl auch die anhaltende Angst vor Terroristen gründlich unterschätzt hatte.

Der Knackpunkt: Wohin mit den Guantánamo-Gefangenen? In Amerika wollte und will sie kaum jemand haben, auch nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis und schon gar nicht auf freiem Fuß. Der Kongress sperrt sich gegen jeden Gefangenentransfer in die USA - bis heute wurde kein einziger Häftlinge aus dem Lager aufgenommen.

Nie einen Richter zu Gesicht bekommen

Am Ende ließ Obama Pläne fallen, "Gitmo"-Insassen den Prozess vor Zivilgerichten in den USA zu machen, wie er es sogar mit den mutmaßlichen Hauptdrahtziehern der Anschläge vom 11. September vorgehabt hatte. Die Sondertribunale nahmen ihre Arbeit wieder auf, wenn auch mit mehr Rechten für die Angeklagten. Demnächst könnte es in einem Verfahren erstmals sogar um die Todesstrafe gehen – ein neues Kapitel in der Geschichte von Guantánamo Bay.

Immerhin ist aber seit 2009 kein neuer Gefangener mehr in das Lager gebracht worden – nach Interpretation von Wizner ein Zeichen dafür, dass Obama Guantánamo wenigstens nicht noch eine zusätzliche Daseinsberechtigung geben will. Aber das ist wahrscheinlich kein Lichtblick für die derzeitigen Dauerinsassen - darunter laut Amnesty mindestens elf, die am 11. Januar ein Jahrzehnt Gefangenschaft in "Gitmo" vollmachen, ohne dabei jemals einen Richter zu Gesicht bekommen zu haben. 

dpa/epd