Es hat den Anschein, dass viele Menschen Bildung nicht mehr für so wichtig halten, weil über Google fast alles im Internet zu finden ist. Gibt es tatsächlich einen Wissensabbruch?
Martina Wagner-Egelhaaf: Ja, das ist wohl schon so. Allerdings ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Unsere Welt hat sich so beschleunigt, dass sich natürlich auch die Wissensbestände verändern und niemand kann das ganze alte Wissen präsent halten und zugleich offen sein für das neue Wissen, das sich ständig weiterentwickelt. Junge Menschen leben in ganz anderen Wissenswelten. Sie wissen zudem eine Menge anderer Dinge, mit denen sich ältere Generationen heute schwer tun.
Kann gute Bildung bei der Orientierung im Internet mit seiner Unzahl oft fragwürdiger Quellen helfen?
Wagner-Egelhaaf (Bild links, Foto: epd-bild): Ja. Ich denke, man braucht einen Grundstock an solidem Wissen, um mit den Informationen, die man im Internet findet, umgehen zu können. Die Fülle der Informationen muss gefiltert, bewertet und weiterverarbeitet werden. Dafür ist ein solides Basiswissen - was immer das im Einzelnen sein mag - eine wesentliche Grundlage.
Wie kann ein solches Basiswissen aussehen? Gibt es einen verbindlichen Bildungskanon?
Wagner-Egelhaaf: Den kann es natürlich nicht geben. Bildungskanones waren schon immer problematisch. Dazu wurde in der Literaturwissenschaft lange geforscht. Wer ist eigentlich dazu befugt und wer kann einen Kanon formulieren? Auf der einen Seite sind das vielleicht die Bildungseliten oder die, die sich dafür halten. Wenn ich einen Kanon formuliere, dann übe ich zudem Macht aus, dann nutze ich die privilegierte Position aus, die ich in der Gesellschaft habe, um anderen meine Sicht auf das, was wichtig ist, gewissermaßen vorzuschreiben.
Kann man heute also keinen allgemeingültigen Kanon mehr formulieren?
Wagner-Egelhaaf: Nein, unsere Welt ist so plural geworden, dass wir alle nur noch ausschnitthaft Bildung besitzen. Es hat im Bereich der Literatur viele verschiedene Kanones gegeben, darin finden sich teilweise die gleichen Inhalte, aber teilweise natürlich auch unterschiedliche. Man kann nicht mehr allgemeinverbindlich sagen, was wichtig ist, was alle lesen müssen. Aber man kann sich darüber streiten - und das ist in jedem Fall nützlich.
"Unsere Welt ist so plural geworden,
dass wir alle nur noch
ausschnitthaft Bildung besitzen"
Studien zufolge haben Schüler aus bildungsfernen Familien in Deutschland ungleich schlechtere Startchancen fürs Leben als in vielen anderen Industrieländern. Hinken wir bei der Wissensvermittlung in Deutschland hinterher?
Wagner-Egelhaaf: Absolut, Ja. Es geht aber nicht mehr nur um Wissensinhalte, sondern um den Zugang zum Wissen. Man braucht so etwas wie Wissenskompetenz.
Wie kann eine solche Wissenskompetenz aussehen?
Wagner-Egelhaaf: Bildung ist nicht nur eine Geldfrage. Das ist sie natürlich auch, aber Bildung ist natürlich auch eine Einstellungsfrage. Wo Bildung und Wissen im Elternhaus eine wichtige Rolle spielen, werden den Kindern für das ganze Leben Werte vermittelt, die Kindern aus bildungsfernen Schichten vorenthalten werden. Wenn Kinder nicht schon früh die Erfahrung machen, wie wertvoll Wissen sein kann, nützt ihnen auch die ganze Verfügbarkeit von Wissen im Internet nichts.
Zwar merken viele junge Leute, dass sie auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben, wenn sie Wissen mitbringen, und zwar nicht nur im Bereich des engeren Berufsprofils. Eine bessere Bildung bedeutet bessere Jobs. Dies ist für viele eine Motivation, sich mehr um die eigene Bildung zu kümmern. Aber oftmals ist es dann schon zu spät, weil ihnen in der Kindheit und Jugend keine Bildungs- und Wissenskompetenz vermittelt wurde.
"Diese Investitionen
in die Zukunft zahlen sich
eben erst nach Jahren aus"
Was erwarten Sie von der Bildungspolitik?
Wagner-Egelhaaf: Man sollte allen Angehörigen aller Schichten die Möglichkeit zur Teilhabe an Bildung bieten. Politiker sind durchaus auch einsichtig und willig, aber meist scheitern die guten Ideen und Programme an den mangelnden Finanzen. Die Erfolge, die Bildungsprogramme haben, sind zudem nicht unmittelbar zu erkennen. Diese Investitionen in die Zukunft zahlen sich eben erst nach Jahren aus. Politiker, die wiedergewählt werden wollen, können sich darauf nicht einlassen. Einige tun es dennoch und es gibt auch gute Ansätze, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo ein Programm aufgelegt wurde, das jedem Kind an der Schule die Möglichkeit bieten will, ein Instrument zu lernen. Aber insgesamt müsste in dieser Richtung viel mehr getan werden.
Ist der Ansatz "Bildung für alle" vielleicht insgesamt zu naiv?
Wagner-Egelhaaf: Man muss natürlich dafür sorgen, dass alle die Möglichkeit haben, Bildung und Wissen zu erwerben. Es muss aber auch spezielle Förderprogramme für die besonders Begabten geben. Nur mit dem Gießkannenprinzip übers Land zu ziehen, wäre nicht ausreichend. Man muss denjenigen, die spezifische Fähigkeiten haben und in besonderer Weise motiviert sind, die Chance geben, ihre Begabungen zu entwickeln und weiter auszubilden.