Das Theologische in Lindgrens "Ronja Räubertochter"
Zum 10. Todestag der Schriftstellerin Astrid Lindgren ist es Zeit, sich den theologischen Aspekten in ihren Werken zu widmen. Pastor Thomas Vogel hat sich "Ronja Räubertochter" genauer angeschaut.
04.01.2012
Von Pastor Thomas Vogel

Am 28. Januar 2002, vor zehn Jahren, hat die weltberühmte schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907) das Zeitliche gesegnet. Zeitlebens hat sie eine intensive Beziehung zur eigenen Kindheit zwischen den Polen "Geborgenheit und Freiheit", wie sie schreibt, gepflegt und diese ihrer weltweiten Leserschaft aus allen Generationen zugänglich gemacht. Dabei ist "der Einfluss der Bibel auf ihr Werk, nicht zuletzt auf die Sprache, … beträchtlich": So urteilt die schwedische Literaturwissenschaftlerin Vivi Edström in einer profunden Lindgren-Monographie.

Als Gemeindepastor habe ich zwei Predigtreihen zu den Buchfiguren von Astrid Lindgren in der Ev.-Luth. Waldkirche Timmendorfer Strand gehalten, die erste 1999 noch unter dem wachen Interesse von Astrid Lindgren selbst, die zweite zur Weihnachtszeit 2007; dazu zwei Wochen mit Rundfunk-Morgenandachten 2002 und 2007. Ein Heft "Geborgenheit und Freiheit" mit einer Auswahl der Texte liegt in meiner Gemeinde gedruckt vor.

Nie ist es mir darum gegangen, die freiheitsliebende Autorin einfach zu vereinnahmen. Doch sich mit ihrem Werk auch theologisch zu beschäftigen, bleibt ein lohnendes Unterfangen. Die Idee dazu kam mir, als ich – schon als Pastor – "Ronja Räubertochter" von 1983 nur für mich las, aber natürlich geprägt von meinen ausgebildeten Blickwinkeln als evangelischer Theologe. Nach und nach habe ich mir Astrid Lindgrens Werk umfassend erschlossen, und das, was ich aus meiner Kindheit kannte, neu gelesen, dazu die Sekundärliteratur. Auch die schwedischen Schauplätze und Ausstellungen habe ich aufgesucht, und sowohl mit Astrid Lindgren als auch mit ihrer Tochter Karin Nyman korrespondiert.

Wie ist es, wenn man in eine ererbte Rivalität hineingeboren wird?

Zu den Grundmotiven bei "Ronja Räubertochter", dem letzten großen Werk der Astrid Lindgren, gehört diese Frage: Wie ist es, wenn man in eine ererbte Rivalität hineingeboren wird, in steile Abgrenzung? Wir hier – gegen die anderen dort? Eine Sippe steht gegen die andere, eine Tradition, Richtung, Prägung. Ein Riss trennt im Leben, spaltet in einer Gewitternacht später sogar die Burg der Räubersippe. Bis eines Tages zwei Kinder aufeinander treffen.

Ronja, die Tochter des Räuberhauptmanns, und Birk, der Sohn von der anderen Seite, die Rivalen-Bande. Die Kinder lachen sich an und beginnen spielerisch, hin und her zu springen. Nun trennt der alte Riss plötzlich nicht mehr, sondern verbindet – im wilden Spiel. Niemand sonst weiß davon. So beginnt etwas Neues, Zukunftsträchtiges: Alte Feindschaft muss nicht immer fortgesetzt werden, ein Abstand wird überwunden, überbrückt. Und als Birk, der Junge von der anderen Seite, nach einem Sprung lebensgefährlich abrutscht, gelingt es Ronja unter Mühen, ihn mit einem Lederriemen zu retten. Birk kommentiert dies so: "Von jetzt an bin ich vielleicht an dich gebunden, Ronja".

Später gelingt es Ronjas Räubern, Birk von der Gegenseite zu schnappen. Sogleich soll der gefangene Sohn des Rivalen als Druckmittel dienen, die anderen zum Abzug aus der Burghälfte zu bewegen. Am Riss, auch Höllenschlund genannt, stehen sich beide Räubersippen gegenüber. Böse Drohworte fliegen hin und her, die Situation eskaliert. Plötzlich aber springt Ronja mit verzweifeltem Mut auf die Gegenseite hinüber, und das Druckmittel ist dahin. Vereinbart wird ein Austausch der Kinder, und erfolgt. Ronja hat sich entschieden, gegen das ererbte Räuberleben, gegen alte Feindschaft – für Birk, ihren Freund, für eine gute Zukunft. Sie sagt: "Birk, mein Bruder, im Leben und im Tod kann uns nichts trennen, weißt du das nicht?" und "Das Leben ist etwas, das man hüten und bewahren muss", nicht aufs Spiel setzen.

Es wächst eine Hoffnung, die biblisch ist

Es dauert eine Weile, bis die Erwachsenen, die Männer zumal lernen, die alte Rivalität zu begraben und einig zu werden, zu erkennen, "dass es kein Triumph ist, beweisen zu können, der Gegner sei und bleibe so verstockt wie stets. Dahinter verbirgt sich allzu oft bloß das Bedürfnis, sich den Gegner als Gegner zu erhalten, damit man sich selbst nicht zu korrigieren braucht" (Richard von Weizsäcker, 1985).

Durch die Kinder und ihre leise wachsende Zuneigung ist Bewegung in die alten, starren Fronten gekommen. So wächst eine Hoffnung, die biblisch ist: "…dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid" (Philipper 2, 2). Gott heilt die Risse (Psalm 60, 4) zuweilen durch Menschen, die Versöhnung ernst nehmen und einfach mit Liebe versuchen, anders und neu anzufangen.

Kinder spielen bei der Hoffnung auf Erneuerung der Menschen bei Astrid Lindgren eine wichtige Rolle. Astrid Lindgren ist auf dem Friedhof in ihrem Heimatort Vimmerby begraben. Aber ihr Werk lebt, auch weil Gott mit jedem Leben gut anzufangen weiß.


Professor Thomas Vogel ist Pastor in der Kirchengemeinde Timmendorfer Strand. Er beschäftigt sich schon viele Jahr mit den theologischen Aspekten in den Büchern Astrid Lindgrens. (Foto: privat)