Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, sagte dem epd: "Die offenkundigen Versäumnisse bei der Verhinderung und Aufklärung der Verbrechen dürfen nicht nur in der Verwaltung intern geprüft werden." Vielmehr gehöre die lückenlose Aufklärung über das Versagen der Behörden in die Öffentlichkeit. "Wir müssen diese Debatte auch im Bundestag führen." Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, warf derweil den Behörden Untätigkeit bei der Aufklärung der Neonazi-Mordserie vor.
Graumann kritisierte im Berliner "Tagesspiegel" (Freitagausgabe), knapp zwei Monate nach Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle scheinen "die Ermittler in eine Art Winterschlaf verfallen zu sein". Die Sicherheitsbehörden hätten "schon ein ganzes Jahrzehnt gepennt, und noch immer tappen wir vollkommen im Dunkeln". Das sei ein "Desaster", unterstrich Graumann.
Versäumnisse des Verfassungsschutzes?
Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), rechnet derweil nicht mit einer baldigen vollständigen Aufklärung über das Treiben des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). "So wie es aussieht, wird es wohl noch sehr lange dauern, bis feststeht, wie weit das Netzwerk der Gruppierung NSU reicht", sagte der CDU-Politiker dem "Tagesspiegel". Man werde mit Mitarbeitern sprechen müssen, die gar nicht mehr im Dienst sind, um herauszufinden, ob das mörderische Treiben früher hätte entdeckt werden können.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) fordert Aufklärung darüber, ob es in diesem Zusammenhang Versäumnisse aufseiten des Verfassungsschutzes gegeben hat. "Wir wollen wissen, ob die Behörden auf dem rechten Auge blind gewesen sind", sagte er dem Blatt. Erst wenn darüber Gewissheit bestehe, könne angemessen über Konsequenzen diskutiert werden.
Grüne und Linke im Bundestag hatten sich in den vergangenen Tagen für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ausgesprochen. Für seine Einsetzung sind aber auch Stimmen aus anderen Fraktionen notwendig. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, nannte die gemeinsame Erklärung aller Bundestags-Fraktionen gegen den Rechtsextremismus einen "guten Anfang".
Gipfel gegen Rassismus gewünscht
Die Lage in der türkischen Gemeinde sei nach den Enthüllungen über den "Nationalsozialistischen Untergrund" immer noch "bedrückt", sagte Kolat. "Unser Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und die Politik ist erschüttert", betonte er. Allerdings sei mittlerweile ein ernsthaftes Bemühen der Politiker erkennbar, diesen Fragen nachzugehen. Insbesondere Bundespräsident Christian Wulff habe in der Öffentlichkeit "die richtigen Worte gefunden".
Kolat dringt auf ein stärkeres Engagement der Zivilgesellschaft gegen Rassismus. "Neben der Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel brauchen wir auch einen Gipfel gegen Rassismus", sagte er. Die Türkische Gemeinde sei dazu bereits in Gesprächen mit Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Nichtregierungsorganisationen.
Das Neonazi-Trio aus dem sächsischen Zwickau soll in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen ermordet haben. Opfer waren Kleinunternehmer mit ausländischen Wurzeln sowie eine Polizistin. Der extremistische Hintergrund der Taten war von Verfassungsschutz und Polizei zunächst nicht erkannt worden. Zwei der mutmaßlichen Rechtsterroristen hatten sich Anfang November selbst getötet. Eine Komplizin der beiden Männer sitzt in Untersuchungshaft.