Als Jadwiga sitzt, geht der Taizé-Gesang schon los. Es ist das Morgengebet am zweiten Tag des europäischen Treffens in der Kirche St. Paul im Berliner Stadtteil Wedding. Beim Frühstück winkte die 21-jährige Polin noch lässig ab und biss genüsslich in ein Brötchen, als ihre Begleiterin Katarina besorgt auf die Uhr schaute. "Bei Taizé ist es nie pünktlich, schon gar nicht beim ersten Morgengebet", sagt Jadwiga, die zum vierten Mal zu einem der großen Christentreffen gereist ist. Ihre Erfahrungswerte kommen aber gegen deutsche Pünktlichkeit nicht an. Um Punkt halb neun erklingt "Behüte mich, Gott". "Puh", seufzt Jadwiga, streift sich theatralisch den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn und blickt noch einmal kopfschüttelnd auf die Uhr.
Jadwiga und Katarina, die von allen nur Kasia genannt wird, sind zwei von insgesamt rund 20.000 ausländischen Gästen des Treffens, bei dem bis zum Neujahrstag Gesänge, Gebete und Meditationen in der Stille im Mittelpunkt stehen. "Pilgerweg des Vertrauens" heißt das Motto des Glaubensfestes. Debattiert wird über Gerechtigkeit und Solidarität in Europa.
60 Menschen, eine Dusche, trotzdem Spaß
Während Jadwiga und Kasia auf einer Berliner Couch untergekommen sind, müssen viele andere in Massenunterkünften übernachten. Bis zuletzt haben die Organisatoren die Werbetrommel gerührt, um jeden Gast in einem Privathaushalt unterbringen zu können. Gelungen ist es nicht. Etwa 4.000 Teilnehmer schlafen in Gemeindehäusern, Schulen oder Kindergärten, heißt es am Donnerstag im Pressebüro des Treffens.
"Dadurch wird das Ganze ganz schön chaotisch", sagt der Pfarrer der Weddinger Gemeinde, Andreas Hoffmann. Im Gemeindehaus in der Badstraße müssten sich teilweise 60 Menschen eine Dusche teilen. Die war in der Nacht zu Donnerstag bis zwei Uhr in Betrieb. "Bei den Männern mag das ja noch gehen, aber die Mädchen...", sagt Hoffmann.
Ihm sei schon im März klar gewesen, dass nicht genug Gastgeber gefunden werden. "Viele fahren weg, es gibt bis Silvester ein Riesenprogramm an Veranstaltungen", sagt der evangelische Pfarrer. "Berlin ist wahrscheinlich nicht der richtige Ort", sagt Hoffmann mit enttäuschtem Blick.
Die Teilnehmer lassen sich indes von den Organisationsschwierigkeiten nicht die Freude nehmen. Die Ukrainerinnen Kristina, Dascha und Natascha sind das erste Mal in Berlin, bis auf Dascha sogar das erste Mal im Ausland. Sie sind überwältigt von dem Erlebnis, mit Tausenden Menschen auf dem Messegelände zusammen zu beten. Jeder versteht die besondere Taizé-Sprache mit den kurzen, sich oft wiederholenden Gesängen, auch wenn eine Andacht in anderen Sprachen abgehalten wird.
"Schlafen können wir zu Hause"
Außerdem staunen die Studentinnen über den Stadtteil Rummelsburg, in dem sie bei einer Gastfamilie untergebracht sind. "Es sieht aus wie eine Spielzeugstadt: sauber, strukturiert, bunt", sagt Natascha. In ihrer Stadt im Süden der Ukraine sei alles grau. Von der Größe der Bundeshauptstadt sind die drei jungen Frauen fast erschlagen. Wie alle Teilnehmer führen auch sie immer einen Stadtplan mit sich. Am Donnerstag hilft der trotzdem nicht: Kristina, Dascha und Natascha verlaufen sich auf dem Weg zum Morgengebet. Mit etwas Verspätung bekommen sie einen großen Teil aber dennoch mit.
Nach Diskussionen in Kleingruppen befördern die Berliner Bahnen und Busse die insgesamt rund 30.000 Teilnehmer dann am Vormittag zum Messegelände, wo das Mittagessen verteilt wird. Es folgen Themengespräche auf der Messe, mit Politikern oder mit Vertretern anderer Religionen.
Jadwiga und Kasia planen indes, sich abzuseilen, und Berlin zu erkunden. "Wir haben vier Stunden, wenn wir aufs Abendessen verzichten sogar fünf", sagt Jadwiga über den Stadtplan gebeugt. Die Studentinnen der Bibliothekswissenschaft aus Krakau haben sich viel vorgenommen: Regierungsviertel, Museumsinsel, Schloss Charlottenburg, nach dem Abendgebet ein Spaziergang durch das erleuchtete Berlin. "Vor 23 Uhr sind wir nicht zurück", kündigen sie nach dem Frühstück an: "Schlafen können wir wieder zu Hause in Polen."