Geißler: Politische Kultur in Deutschland hat sich verändert
Die Bedeutung von Volksabstimmungen wird nach Ansicht von Heiner Geißler (81) weiter zunehmen. Im Alleingang ließen sich wichtige Vorhaben nicht mehr durchsetzen, sagt der Stuttgart-21-Schlichter. Er hält das für ein Zeichen demokratischer Reife.
28.12.2011
Die Fragen stellte Christoph Driessen

War 2011 ein gutes Jahr für die deutsche Demokratie?

Heiner Geißler: "Das Jahr 2011 war ein entscheidendes Jahr für die Festigung und Weiterentwicklung unserer Demokratie. Gefährdet wird die Demokratie ja dadurch, dass die Menschen den Eindruck bekommen haben, dass gar nicht mehr ihre Interessen vertreten werden, sondern dass die internationalen Finanzmärkte einflussreicher sind als die gewählten Volksvertreter. Eine verstärkte Bürgerbeteiligung ist der einzige Weg, um das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen."

Also hat sich die politische Kultur in Deutschland nachhaltig verändert?

Geißler: "Ja, das kann man schon sagen. Wir haben jetzt eine Kultur, die endlich das realisiert, was in unserer Verfassung steht: Alle Gewalt geht vom Volke aus, und sie wird ausgeübt durch Wahlen und Abstimmungen. Wahlen sind die Normalität, aber Abstimmungen sind bisher eher eine Fehlanzeige gewesen. Jetzt kommt diese zweite Form der vom Volke ausgehenden Staatsgewalt hinzu: dass über bestimmte Projekte und möglicherweise auch Gesetze abgestimmt wird. Das heißt, wir brauchen die Möglichkeit einer Volksabstimmung auch auf der Bundesebene."

Aber führt das nicht geradewegs in den Populismus?

Geißler: "Nein, gerade nicht. Das beste Mittel gegen Egozentrik und Populismus ist Transparenz. Die Wutbürger sind nicht die Destrukteure oder Feierabend-Revoluzzer, gar verkappten Terroristen, als die sie hingestellt werden. Es sind aufgeklärte Menschen, die im Sinne des Philosophen Immanuel Kant die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, dass jeder selbstständig denken kann. Das Volk ist viel gescheiter, als die elitäre Klasse der Politiker und Journalisten in Berlin das wahrhaben will."

dpa