Laute Rufe nach Machtwechsel in Moskau
So viele Menschen wie seit 20 Jahren nicht mehr fordern in Russland faire und frei Neuwahlen. Der Kreml will angekündigte Reformen rasch umsetzen. Doch erstmals gibt es laute Rufe nach einem Machtwechsel.

Rekordteilnahme an Protesten und erstmals laute Rufe nach einem Machtwechsel in Russland: Bei der größten Anti-Regierungskundgebung seit dem Machtantritt von Wladimir Putin vor mehr als zehn Jahren haben Zehntausende Menschen trotz Eiseskälte und Schnee landesweit faire Neuwahlen gefordert. Russische Zeitungen berichteten am Montag von mehr als 120.000 Demonstranten am Protesttag. Die Polizei nannte am Samstag aber nur 29.000 Teilnehmer. Überraschend forderte erstmals auch der prominente Ex-Finanzminister Alexej Kudrin von der Bühne aus Neuwahlen.

"Nötig sind viel breiter angelegte politische Reformen, als die, die Präsident Dmitri Medwedew jetzt anstrengt", sagte Kudrin. Erforderlich dafür sei die Gründung einer neuen demokratischen Partei. Wegen des Vertrauensverlusts müsse zudem der umstrittene Wahlleiter Wladimir Tschurow zurücktreten. Kommentatoren werteten Kudrins Auftritt als Sensation. Der unlängst entlassene Minister bot sich als Vermittler zwischen Demonstranten und dem Kreml an.

Der Kreml will Reformen umsetzen und Parteienvielfalt schaffen

Im ganzen Land gingen bei Minusgraden und viel Schnee Menschen zu friedlichen Kundgebungen auf die Straße. Bei einzelnen nicht genehmigten Protesten kam es zu Festnahmen, wie die Agentur Interfax meldete. Insgesamt waren nach Angaben der Behörden und unabhängigen Beobachter in Moskau deutlich mehr Menschen auf der Straße als bei der Großkundgebung am 10. Dezember. Es seien die größten Proteste unter dem Motto "Für ehrliche Wahlen" seit 20 Jahren in Moskau gewesen, schrieb die Zeitung "Komsomolskaja Prawda".

Der Kreml kündigte an, die von Medwedew geplanten politischen Reformen rasch umzusetzen. Die Duma solle den angekündigten Gesetzen zur Belebung des politischen Wettbewerbs und für mehr Parteienvielfalt möglichst bald zustimmen, sagte Kremlsprecherin Natalia Timakowa angesichts der Proteste. Die Opposition nannte die Vorschläge unzureichend.

Im Moskauer Stadtzentrum gab es erstmals laute Rufe nach einem Führungswechsel. "Russland ohne Putin", rief der Kremlgegner und Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow. Der Friedensnobelpreisträger und Ex-Sowjetpräsident Michail Gorbatschow verlangte ebenfalls erstmals in aller Deutlichkeit den Rücktritt von Regierungschef Putin. Diese offenen Forderungen nach einem Systemwechsel seien ein neuer Trend, wie die Zeitung "Wedomosti" schrieb.

Protestierer werden weiter protestieren

Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte, dass Gorbatschow, der "Totengräber der Sowjetunion" vor 20 Jahren, selbst als Staatschef gescheitert sei. Zudem verwies er erneut darauf, dass Putin noch immer der beliebteste Politiker Russlands sei. Bei der Präsidentenwahl am 4. März will Putin sich wieder in den Kreml wählen lassen, wo er schon von 2000 bis 2008 regierte. Medwedew soll in einer umstrittenen "Rochade" Regierungschef werden.

Der prominente Anwalt und Internet-Blogger Alexej Nawalny, der als möglicher künftiger Präsidentenkandidat gilt, rief zu weiteren friedlichen Protesten gegen den Kreml auf. "Wir nehmen uns, was uns gehört, und holen uns unsere Stimmen zurück", sagte Nawalny, der erst vor kurzem aus der Haft entlassen worden war. Bei den Auftritten auf einer Bühne mit großen Videowänden forderten die meisten Redner vor allem Neuwahlen im kommenden Jahr.

Parlamentswahl war auch international umstritten

Am Rande der Kundgebung sagte der Multimilliardär und Präsidentenkandidat Michail Prochorow dem Radiosender Echo Moskwy, dass er im Fall seiner Wahl am 4. März das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen werde.

Die Dumawahl am 4. Dezember, bei der Putins Partei Geeintes Russland mit knapp 50 Prozent der Stimmen den Sieg zugesprochen bekommen hatte, löste auch international Kritik aus. "Trotz eisiger Temperaturen ist keine politische Abkühlung in Sicht. Die Demonstranten wollen Demokratie jetzt", sagte der Europa-Abgeordnete Werner Schulz von den Grünen einer Mitteilung zufolge. "Russland 2011 könnte sich zur Fortsetzung der Freiheitsbewegungen von Budapest, Prag, Danzig und Leipzig entwickeln", sagte der Ex-DDR-Bürgerrechtler.

Für die Menschen in Russland ist der 24. Dezember ein gewöhnlicher Tag. Weihnachten feiern die orthodoxen Christen im Riesenreich erst in der Nacht zum 7. Januar.

dpa