Von Ketteler: "Ich möchte lieber in Frieden Kartoffeln essen"
Er war das soziale Gewissen der deutschen Katholiken. Vor 200 Jahren wurde der Mainzer Bischof Ketteler geboren. Mit Leidenschaft setzte er sich für die Rechte der Arbeiter ein und forderte tiefgreifende politische Reformen.
22.12.2011
Von Christian Feldmann

An der Universität Göttingen immatrikulierte sich 1829 ein Jurastudent, der bald zum Schrecken seiner Professoren werden sollte. Er stammte aus einer alten westfälischen Adelsfamilie: Wilhelm Emmanuel von Ketteler, geboren vor 200 Jahren am 25. Dezember 1811. Der jähzornige junge Mann ließ sich ständig in Streit verwickeln. Bei einem Säbelduell verlor er die Nasenspitze - die Narbe blieb sein Leben lang sichtbar.

Als Ketteler aber 1833 als Gerichtsreferendar in Münster in den Staatsdienst trat, hatte er sich mit unerhörter Selbstdisziplin in einen Musterbeamten verwandelt. 1844 die nächste überraschende Lebenswende: Der Freiherr ließ sich zum Priester weihen, übernahm eine westfälische Dorfpfarrei und legte fortan einen ausgesprochen einfachen Lebensstil an den Tag: keine Equipage, ein Strohsack zum Schlafen. Stattdessen bezahlte er regelmäßig die Arztrechnungen armer Leute. In seine Predigten strömten so viele Menschen, dass er sie bald unter freiem Himmel halten musste.

"Glasklare Analyse und messerscharfe Kritik"

1848 wurde Ketteler in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er forderte Gewissens- und Religionsfreiheit, nicht nur für Katholiken. Beim ersten deutschen Katholikentag im selben Jahr verlangte er von Kirchenoberen und Laienorganisationen ein entschlossenes Engagement in der sozialen Frage. 1850 als Bischof nach Mainz berufen, begann er energisch auf tiefgreifende Reformen in Staat und Gesellschaft zu drängen.

Ohne Berührungsängste gegenüber den Sozialdemokraten griff er Ferdinand Lassalles Idee von "Produktivgenossenschaften" auf, deren Gewinn an die Arbeiter verteilt werden sollte. 1864 erschien Kettelers grundlegendes Werk "Die Arbeiterfrage und das Christentum". Für den Münchner Kardinal Reinhard Marx, geboren 1953, war das eine "fulminante Kapitalismuskritik", eine "glasklare Analyse und messerscharfe Kritik der damaligen sozioökonomischen Verhältnisse".

Schuld am Arbeiterelend sei der Liberalismus, weil die uneingeschränkte Gewerbefreiheit zur Verarmung der unteren Schichten führe, analysierte Ketteler. Im Zuge der Industrialisierung sei die Arbeitskraft den Marktgesetzen unterworfen worden und zur bloßen Ware herabgesunken. Die Arbeiter seien der Übermacht des Kapitals, des "zentralisierten Geldes", schutzlos ausgeliefert. "Das ist der Sklavenmarkt unseres liberalen Europas", schrieb Ketteler.

Darf ein Katholik Mitglied einer Arbeiterpartei sein?

Als die Zentrumspartei 1877 als erste Fraktion im Reichstag den Entwurf für ein umfassendes Arbeiterschutzgesetz einbrachte, stützte sie sich auf ein sozialpolitisches Programm, das Ketteler vorgelegt hatte. Gegen Ende seines Lebens musste er sich mit den Folgen des Bismarck'schen "Kulturkampfes" auseinandersetzen - Schließung seines Priesterseminars, Aufnahmestopp in den Ordensniederlassungen, Ausweisung der Jesuiten, Haftstrafen für kritische Worte von der Kanzel.

Kettelers letzte Schrift sollte die heikle Frage beantworten, ob ein Katholik Mitglied einer sozialistischen Arbeiterpartei sein könne. Ketteler erkannte die Berechtigung vieler Programmpunkte des sozialistischen Lagers an, fürchtete aber, eine sozialistische Gesellschaft werde in eine neue Sklaverei führen: "Wenn nun aber auch alle Phantasien Wahrheit wären und alles fett gefüttert würde in dem allgemeinen Arbeiterstaat, so möchte ich doch lieber in Frieden die Kartoffeln essen, die ich baue, und mit dem Pelz der Tiere mich kleiden, die ich pflege, und dabei Freiheit haben - als in der Sklaverei des Arbeiterstaates leben und fett gefüttert werden." Am 13. Juli 1877 starb Wilhelm Emmanuel von Ketteler auf der Heimfahrt von einer Romreise im bayerischen Burghausen.

Natürlich seien manche seiner Aussagen zeitbedingt, räumt Kardinal Marx heute ein. Zeitlos aber sei Kettelers Mahnung zur Solidarität mit den Armen und Schwachen in der Gesellschaft und zum Schutz der Arbeitnehmer.

Buchtipp: Kardinal Reinhard Marx: Christsein heißt politisch sein. Wilhelm Emmanuel von Ketteler für heute gelesen. Herder, 140 Seiten, 14,95 Euro.

epd