Für die meisten dürfte es das erste Mal in Indien gewesen sein. Die Freiwilligen von der Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow nahe dem niedersächsischen Gorleben waren müde. Sie hatten auf ihrer Reise schon mehrere Zwischenstopps hinter sich. In Wien hatte sich der Weiterflug überraschend verzögert. In Dubai musste ein Tag Pause eingelegt werden. Es folgten Mumbai und Ahmedabad, beide in Indien. Nun reiste die Freiwilligengruppe weiter in eine andere Stadt. Nur ein Mädchen – so war es geplant – würde am Flughafen von Ahmedabad abgeholt werden.
Auch dieses Jahr hat KURVE Wustrow wieder 14 Freiwillige entsendet: ins ehemalige Jugoslawien, nach Israel/Palästina und diese Gruppe nach Indien. Die Jugendlichen werden ein Jahr lang in Friedensprojekten arbeiten, in denen Kinder und junge Frauen zu Entwicklungshelferinnen ausgebildet werden. Sie werden sich in ökologisch-landwirtschaftlichen Betrieben engagieren, in Forschungszentren für Handarbeit, oder sie geben indischen Schülern Englischunterricht. Sie tun es mit viel Idealismus: Reise- und Unterbringungskosten finanzieren sie selbst – mit Hilfe von Unterstützern aus Deutschland, großzügigen Spendern aus dem Familien- und Bekanntenkreis.
Die Träger von Friedensdiensten freuen sich über so viel Idealismus. "Toll ist, wenn Bewerber bei uns ein Interesse an der Arbeit der KURVE Wustrow haben – und Interesse an Themen der Gewaltfreiheit, wenn sie einen politischen Blick auf die Gesellschaft haben", sagt Sandra Campe, Koordinatorin für den weltwärts-Freiwilligendienst bei KURVE Wustrow.
"Politischer Blick auf die Gesellschaft"
Die Gruppe von der KURVE Wustrow war bereits von Ahmedabad weitergereist, nur die eine Freiwillige, die abgeholt werden sollte, wartete geduldig am Flughafen. Niemand kam. Offenbar war die Verabredung vom indischen Projektpartner anders verstanden worden. Und nun stand diese junge Deutsche irgendwo in Indien, wo sie niemanden kannte. Sie entschloss sich, sich selbstständig zum Projektpartner durchzuschlagen – und kam tatsächlich an.
"Auf den weiten Kommunikationswegen zwischen hier und Indien können Informationen schon mal verloren gehen", sagt Sandra Campe. "Deswegen sollten Bewerber für einen Friedensdienst bei uns eine gewisse Selbstständigkeit mitbringen. Da ist Mut gefragt, in die Welt zu gehen. Und die Bereitschaft, Ungewohntes zu erleben."
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Nicht jeden Freiwilligen verschlägt es mit so viel Idealismus in die Ferne. Die allermeisten bleiben in Deutschland, handwerkeln in Jugendherbergen, kochen in Freizeitcamps, bespaßen Kinder in Waldkindergärten, lassen sich ihr Freiwilligenjahr im Altenheim als Vorpraktikum für die Ausbildung anrechnen, überbrücken Wartesemester zum Medizinstudium in einem Krankenhaus. Und auch wenn viele ihren Freiwilligendienst nur eine Auszeit von der vielen Lernerei suchen: Eine Portion Idealismus dürfte bei allen Freiwilligen eine Rolle spielen. Wenn es auch ein anderer Idealismus ist als bei den jungen Männern, die noch bis vor Kurzem ihren Zivildienst leisteten.
Werbung für die Bundeswehr zündet nicht
"Früher, als es die Wehrpflicht noch gab, mussten junge Männer die Gewissensentscheidung treffen, ob sie als Christ den Wehrdienst verweigern und Zivildienst leisten sollen", sagt Renke Brahms, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Schriftführer (also Bischof) der Bremischen Kirche. "Heute lautet die Gewissensfrage: Darf ich als Christ überhaupt Wehrdienst leisten?"
Denn auch dies ist möglich: der freiwillige Wehrdienst. Bis zu 15.000 Freiwillige will die Bundeswehr Jahr für Jahr anwerben. Doch anders als beim Bundesfreiwilligendienst läuft die Werbung nur stockend an – trotz kräftiger finanzieller Anreize. Zwischen 778 und 1.100 Euro streichen freiwillige Soldaten Monat für Monat ein, je nach Dienstdauer zwei- bis viermal so viel wie zivile Freiwillige.
3459 Freiwillige traten zum Julitermin den Wehrdienst an, jeder Fünfte stieg schon innerhalb des ersten Quartals wieder aus. Beim zweiten Anwerbetermin im Oktober waren es mehr als 4500 Freiwillige. Doch der Bundesverteidigungsminister ist unzufrieden. Genaue Zahlen über Abbrecher will er zu Beginn des neuen Jahres vorlegen.
Boom trotz Startschwierigkeiten
Ganz anders sieht die Lage beim neuen Bundesfreiwilligendienst (BFD) aus. 21.000 Vereinbarungen mit Freiwilligen meldete das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) schon Ende Oktober 2011. Und das, obwohl die Zahl derer im herkömmlichen Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) im gleichen Zeitraum eher zu- als abnahm. Die Zahl der Freiwilligen ist im zivilen Bereich also insgesamt drastisch angestiegen. So zählt allein die Trägergruppe der Evangelischen Freiwilligendienste e. V. in Hannover dieses Jahr insgesamt etwa 11000 Freiwillige, eine Zunahme von mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Dabei lief das BFD-Gesetzverfahren erst stockend an. Bis Juli 2011 gab es nicht einmal vorgefertigte Verträge für die neuen Freiwilligen. Zudem waren die Träger des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) in Aufruhrstimmung. Sie fürchteten eine finanzielle Besserstellung des Bundesfreiwilligendienstes gegenüber dem FSJ. Und zu allem Überfluss schien es lange so, als wolle das Bundesfamilienministerium ausschließlich mit den Einsatzstellen Verträge schließen – und so deren Träger (in der Regel Wohlfahrtsverbände) umgehen.
Die Stimmung war bei den Wohlfahrtsverbänden war mies. Statt das bewährte FSJ weiter auszubauen, bastelte das Ministerium an einem neuen Freiwilligendienst. Sein Hauptargument: Die freiwerdenden Mittel für den Zivildienst aus dem Bundeshaushalt dürften aus rechtlichen Gründen nicht mit einer FSJ-Zweckbindung an die Bundesländer weitergereicht werden. Viele aus der Szene munkeln, das Argument sei vorgeschoben. In Wahrheit habe das Bundesfamilienministerium sein Amt für den Zivildienst und dessen Mitarbeiter retten wollen.
Wogen geglättet
Nach langen Verhandlungen haben sich die Wogen geglättet. Das Gesetz über den Bundesfreiwilligendienst ist fast vollständig an das FSJ-Gesetz angeglichen. "Wir machen keinen Unterschied in der Begleitung der Jugendlichen", kann heute Michael Brausch von der Düsseldorfer Diakonie (Rheinland-Westfalen-Lippe) sagen. Die Düsseldorfer fassen sogar FSJler und BFDler in ihren Seminargruppen zusammen.
Für die Jugendlichen ist der Unterschied zwischen FSJ und BFD ohnehin nur in Ausnahmefällen spürbar. Wurde bis Anfang Dezember bei Sozialhilfeempfängern, deren Kinder im BFD waren, das Taschengeld mit den Hartz IV-Zuwendungen verrechnet, so haben sich auch hier beide Dienste angeglichen. Anfang Dezember stimmte der Bundestag zu: Bei Sozialhilfeempfängern wird nur der Teil der Freiwilligenbezüge auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, der 175 Euro übersteigt. Die Bezüge setzen sich zusammen aus Taschengeld (zwischen 150 bis 250 Euro monatlich) und Sachleistungen (wie Kleider- und Verpflegungsgeld)
Auch erhalten Einrichtungen für BFDler Bildungsgutscheine, mit denen sie kostenlos an Seminaren in früheren Zivildienstschulen teilnehmen dürfen. Stellen sie lediglich FSJler ein, gehen sie dabei leer aus. Doch die Düsseldorfer Diakonie weiß sich auch hier zu helfen. Sie verteilt die vorhandenen Gutscheine einfach auf alle Jugendlichen. "So können wir mit allen Gruppen eine der fünf gesetzlich vorgeschriebenen Seminarwochen in einem Bildungszentrum des Bundes über die Gutscheine abrechnen. Für die anderen 20 Seminartage buchen wir nach wie vor Bildungseinrichtungen der Diakonie", sagt Brausch.
Alle Altersgruppen vertreten
1017 Freiwillige haben die Rheinländer dieses Jahr, doppelt so viele wie im Vorjahr. Zwei Drittel sind FSJler, ein Drittel im BFD. Bei den westfälischen Kollegen ist das Verhältnis umgekehrt. Hier sind sehr viele Zivildienst- in BFD-Stellen umgewandelt worden.
Der BFD ist auch für Bewerber über 30 Jahre offen. Noch kommen wenige. Insgesamt 30 zählt die rheinische Diakonie: altgewordene, gefühlte Jugendliche, die ihre Orientierungsphase nachholen; Berufseinsteigerinnen nach der Familienphase (wenn die Kinder aus dem Haus sind); Arbeitslose, die wieder in der Arbeitswelt Fuß fassen wollen; Rentner, die nach einem erfüllten Arbeitsleben "etwas an die Gesellschaft zurückgeben wollen". Die Hoffnung des Familienministeriums, dass sich ältere Freiwillige in großen Zahlen melden, hat sich bislang noch nicht erfüllt.
Burkhard Weitz ist chrismon-Redakteur. Außerdem ist er Portalleiter von zivil.de, der Webseite für evangelische Freiwilligendienste.