Konservativ und offen: Evangelische Christen in Belgien
Auf ihre Tradition, die bis zu den Anfängen der Reformation zurückreicht, sind die ostbelgischen Protestanten besonders stolz. Die Gemeinschaft ist klein, aber lebendig.

"Ich komme aus Aachen", sagt Nils (12), "wir aus Limbourg", sagen Jêrome und Noah (7), "ich aus Gladbeck", sagt Tim (12). Alle zusammen hat es nach Ostbelgien verschlagen und bilden mit vier Mädchen den Kinderchor "kleinlaut" der Evangelischen Kirchengemeinde Eupen/Neu-Moresnet. Bunt wie die Herkunft der Kinder ist auch die der Gemeindeglieder, die sich mit der Gemeinde Malmedy-St. Vith die insgesamt 1300 evangelischen Christen der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens teilen.

So ist Presbyter Thomas Spaniol ein Saarländer, sein Mitbruder Hans Thom ein Magdeburger und die lebendige Gemeindechronik und Presbyter Rolf Lander ein echter Eupener mit Schweizer Wurzeln. Pfarrer Darius Tomczak ist Pole aus Krakau. "Ich wollte Geistlicher werden und heiraten", sagt der Konvertit. Also hat er an der Berner reformierten Fakultät studiert und lebt jetzt mit Frau und Kind in Eupen.

So alt wie die Reformation

Eupen gehört zu den beiden belgischen Gemeinden, deren Geschichte ununterbrochen bis zur Reformation durch den calvinistischen Reformator Franciscus Junius 1568 zurückreicht. Die Glaubensfreiheit der Gemeinde war vom Landesherrn abhängig. Unter den Spaniern war der reformierte Glaube unterdrückt, und die Protestanten mussten sonntags einen vierstündigen Fußweg, den nach niederländischen Freiheitskämpfern benannten "Geusenweg" in Kauf nehmen, um den Gottesdienst im niederländischen Vaals zu besuchen.

Unter holländischer Herrschaft wurde 1707 das noch heute bestehende Pfarrhaus nebst Beetsaal gebaut. Unter den Habsburgern herrschte wieder Unterdrückung bis Kaiser Joseph II. den Protestanten 1781 per Toleranzedikt Freiräume verschaffte. Die volle Gleichstellung kam mit Napoleon. Unter den Preußen wurde die evangelische Gemeinde sogar privilegiert, da viele Beamte und sogar Bürgermeister evangelisch waren.

Der Bekenntnisstand ist offiziell seit dem 27. November 1831 uniert. Aber in der Praxis sind die Eupener als Mitglied der Vereinigten Protestantischen Kirche Belgiens eher dem reformierten Bekenntnis zugetan. Die unierten Pfarrer in der Zwischenkriegszeit – 1920 wurden Eupen und Malmedy belgisch – und natürlich nach der Eroberung durch die Nationalsozialisten 1940 waren pro Deutschland eingestellt. So kamen dann nach dem Krieg Pfarrer aus der Schweiz, die reformiert orientiert waren.

Konservativ und offen

"Wir sind eine konservative Gemeinde", sagt Pfarrer Tomczak. Aber er will dieses "konservativ" im paulinischen Sinne verstanden wissen: "Prüfet alles, und das Gute behaltet", heißt es im ersten Thessalonicherbrief (5,21). Gleichzeitig sieht er die Gemeinde als Bekenntnisgemeinde, die am Wort der Schrift hängt, und als "offene Gemeinde", offen für alle Mentalitäten und Glaubensformen. Für eine kleine Herde, die sowohl sprachlich als auch religiös in der Diaspora lebt, ist das überlebensnotwendig.

Unter den rund 1000 Gemeindegliedern finden sich Evangelikale, wiedergeborene Christen, pfingstlerisch orientierte, Konservative, Linke, Liberale, letztlich alles, was der evangelische Acker an Früchten hervorbringt. Auch die vielen deutschen Zugewanderten, die sich besonders in den unmittelbaren Grenzgemeinden niedergelassen haben – Ostbelgien ist aus steuerlichen und landschaftlichen Gründen für Beamte und Universitätsmitarbeiter aus Aachen hochattraktiv – bringen ihre eigenen kirchlichen Traditionen mit.

Jung und ökumenisch

So ist die Jugendarbeit der Eupener Gemeinde in der Hand der "Royal Rangers", eines Pfadfinderbundes, der aus dem freikirchlichen Milieu stammt. Mit dem Kinderchor "kleinlaut", der jetzt mit einer gekonnten Aufführung des Weihnachtsmusicals "Christopher die Kirchenmaus" zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat, ist ein weiteres Angebot für Kinder entstanden. Ohne die Eltern geht allerdings nichts, denn die Kirchen sind in Eupen und Neu-Moresnet, während die Familien in diversen politischen Gemeinden der DG oder auch der Wallonie leben. Daher ist ein Fahrdienst nötig, um zur Gruppenstunde oder Chorprobe zu kommen.

Für die Erwachsenen gibt es auch einen Kirchenchor und überall im Gemeindegebiet Hauskreise, die auch Katholiken offen stehen. Die ökumenische Zusammenarbeit mit der wesentlich größeren katholischen Schwesterkirche ist gut. So findet im Januar eine ökumenische Woche statt, und auch der Lütticher Bischof Alois Jousten ist deutschsprachiger Ostbelgier aus St. Vith und in Eupen gut bekannt.

Reformiert, aber verschieden

Insgesamt unterscheiden sich die evangelischen Gemeinden in Belgien sehr voneinander, obwohl das niederländische reformierte Bekenntnis, die Confessio Belgica von 1561des Reformators Guy de Brès für alle bindend ist. So ist beispielsweise in der zweiten deutschsprachigen Gemeinde Malmedy, die für den Südteil der DG zuständig ist und trotz frankophoner Umgebung rein deutschsprachig ist, die Segnung homosexueller Paare möglich, was in Eupen nicht geht. In der Wallonie gibt es auch zwei Gemeinden, die auf der Erwachsenentaufe bestehen. Die Mehrheit der evangelischen Christen lebt im frankophonen Landesteil.

In Flandern ist der Einfluss der beiden niederländischen Konfessionen "hervoormd" (liberal-reformiert) und "gereformeerd" (streng calvinistisch) spürbar. Denn viele Pfarrer dort stammen aus den Niederlanden. Im Süden kommen die Geistlichen oft aus Frankreich, Deutschland und anderen Ländern. Inzwischen gibt es aber in Brüssel eine theologische Fakultät, sodass es bald mehr Belgier im Pfarrberuf geben wird. Das ist auch notwendig, denn die Hälfte der wallonischen Pfarrstellen ist vakant.

Der Staat finanziert die Kirchen

Bezahlt werden Pfarrer Tomczak und seine Amtsbrüder vom belgischen Staat. Wenn eine Kirche oder Religion staatlich anerkannt ist, übernimmt die Öffentlichkeit alle Kosten für Pfarrer oder Imam, Chanukka-Leuchter oder Ewiges Licht, Bibeln oder Büropapier. Anerkannte Religionen sind neben der Katholischen Kirche als Mehrheitskirche der Islam, die "Freigeistige Weltanschauungsgemeinschaft" (Freidenker), die Orthodoxen, die Protestanten, das Judentum und die Anglikaner.

Ein wenig gleicher als die anderen sind die Katholiken, denn der Primas von Belgien ist nach dem König der protokollarisch zweite Mann im Staat. Eine Folge dieses Systems ist es, dass belgische Kirchengemeinden ähnlich wie die Katholiken in Deutschland eine zweigeteilte Spitze haben, ein Presbyterium für die geistlichen und einen Verwaltungsrat für die finanziellen Belange.

Besonders die Evangelischen profitieren von dieser Regel, denn die kleinen Gemeinden mit teilweise gerade 50 Gemeindegliedern könnten sich keinen Pfarrer leisten, wenn nicht der Staat zahlen würde. "Würde das aufhören, sähe es nicht gut aus", befürchtet auch Pfarrer Tomczak.


Dr. Klaus Schlupp ist Theologe und freier Journalist in Aachen.