48,5 Millionen Menschen gehören in Deutschland einer der christlichen Kirchen an. Um genau zu sein: 2010 hatte die Evangelische Kirche 23,9 Millionen, die katholische 24,6 Millionen Mitglieder. Das macht zusammen rund 59 Prozent der Bevölkerung in Deutschland (81,75 Millionen) aus. Man könnte also sagen, die christlichen Kirchen in Deutschland sind noch immer Volkskirchen.
Und trotzdem. Seit Jahren kämpfen die Institutionen mit rückläufigen Mitgliederzahlen. Nun hat eine neue Umfrage des Sinus-Instuituts ergeben, dass die Austrittswelle in Zukunft noch massiver werden könnte. Denn 5,5 Millionen Kirchenmitglieder denken demnach darüber nach oder sind fest entschlossen, aus den Kirchen auszutreten, schreibt Bodo Flaig vom Sinus-Institut im aktuellen Magazin "Christ und Welt." Ein Grund zur Panik?
"Nein", sagt Oberkirchrat Thorsten Latzel von der Evangelischen Kirche. "Denn was die Studie besagt, ist seit Jahren bekannt." Natürlich helfe es nicht, die Augen davor zu verschließen. Stattdessen müsse man die Fakten einordnen und bewerten. Und bedenken, dass die Evangelisch Kirche bereits eine Reihe von Maßnahmen getroffen habe, zum Beispiel mit dem "Jahr der Taufe", um Mitglieder zu binden und zu gewinnen.
"Schon immer gab es Ein- und Austritte aus der Evangelischen Kirche"
Der Schwund der Mitglieder in der Evangelischen Kirche hat mehrere Gründe. Einerseits ist da der Faktor demografischer Wandel. Immer weniger Kinder werden in Deutschland geboren – also sinken auch die Mitgliederzahlen der Kirchen automatisch. Während 2005 noch 82,44 Millionen Menschen Deutschland bevölkerten, waren es 2008 nur noch 82 Millionen.
Schaut man jedoch etwas genauer hin, zeigen die Zahlen noch etwas anderes: Bis 2002 stieg die Zahl der Bevölkerung in Deutschland (82,54 Millionen) stetig an. Erst im Folgejahr begann die Abwärtsspirale. Die Mitgliederzahlen der Kirchen sinken jedoch schon viel länger - wenn auch mit unterschiedlichem Tempo.
"Schon immer gab es Ein- und Austritte aus der Evangelischen Kirche", sagt Latzel. Das liege auch im Evangelischen Selbstverständnis begründet, nachdem ein Gläubiger keine Institution braucht, um mit Gott zu kommunizieren. "Gleichzeitig bedeutet ein Austritt aus der evangelischen Kirche nicht unweigerlich, dass sich ein Mensch von der Religion abwendet."
Der demografische Wandel ist nicht der alleinige Grund für den Mitgliederschwund
Der demografische Wandel ist zwar ein Erklärungsansatz für den Mitgliederschwund, aber der alleinige Grund für die sinkenden Mitgliederzahlen ist er nicht. Auch die Taufe ist eine Ursache. Seit 1964 wurden – zwar mit leichten Auf-und-Abs – immer weniger Menschen getauft. Waren es 1964 noch 483.000, empfingen 2008 nur noch 185.000 Menschen die Gottesweihe. Für die katholische Kirche sehen die Zahlen ganz ähnlich aus.
Bleiben die Austritte: Auch die haben stetig zugenommen, wenn sich die Zahlen bei den Protestanten in den vergangenen Jahren auch etwas beruhigt haben. 2008 verlor die evangelische Kirche 170.000 Gläubige (katholische Kirche: 121.000). Zum Vergleich: 1998 waren es 183.000 Mitglieder der evangelischen Kirche, 1989 nur 146.000. (Katholiken: 1998: 119.000, 1989: 93.000) 2010 sind zum ersten Mal mehr Katholiken (180.000) als Protestanten (150.000) aus der Kirche ausgetreten. Eine mögliche Erklärung: die Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen.
Warum aber haben die Austritte - auf lange Sicht – zugenommen? Die Sinus-Studie zieht als Erklärung vor allem die Milieus heran. Milieus sind möglichst homogene Gruppen, die nach bestimmten Kriterien wie Gehalt, Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, politische Einstellung unterteilt werden. Diese Einteilung wird vor allem im Marketing genutzt, um ein Produkt bei den richtigen Zielgruppen zu platzieren.
Gegen diese Einteilung wehrt sich Thorsten Latzel. Denn die die Kirche wolle keine Einteilung in Milieus, in Zielgruppen, in wirtschafliches Potential. Es mache ja gerade die Spannung aus, in der Kirche auf Menschen unterschiedlicher Herkunft und Vorstellung zu treffen: "Die Art der Einteilung hilft vielleicht erst einmal", sagt Latzel. Aber diese Milieus seien auch Konstrukte und Typisierungen, die nicht der Realität entsprechen würden. "Denn ich als Mensch bin immer noch einmal anders, individueller und komplexer, als mich solche Einteilungen erscheinen lassen."
"Je jünger ein Milieu, desto weniger Chance haben Angebote der Amtskirchen"
Während Mitglieder der Kirchen laut der Sinus-Studie vor allem im Bürgerlichen, Traditionellen oder Konservativ-Etablierten Milieu zu finden sind, gilt: "Je jünger ein Milieu, je unterschichtiger, je moderner seine Grundorientierung, desto weniger Chance haben derzeitige Angebote der Amtskirchen", schreibt Bodo Flaig vom Sinus-Institut im aktuellen Magazin "Christ und Welt."
Es stimmt: Es sind vor allem junge Menschen, die aus der evangelischen Kirche austreten. Einer der Gründe: die Kirchensteuer gepaart mit dem Gefühl, den Anschluss verloren zu haben. Weitere Gründe: der Hang der Gesellschaft zu einer starken Individualisierung und der Grundsätzliche Austritt aus Institutionen. "Mitglieder der evangelischen Kirche sind im Durchschnitt 45 Jahre alt", sagt Latzel. "Viel älter als bei den Katholiken." Punkte, an denen die Evangelische Kirche umdenken, sich anpassen, transformieren muss. "Das heißt aber nicht, dass wir kurz vor dem Untergang sind", sagt Latzel.
Das Statistische Bundesamt schätzt, dass bis 2030 lediglich zwischen 77 und 79 Millionen Menschen in Deutschland leben, 2060 sogar nur noch zwischen 64,6 und 70 Millionen. Düstere Aussichten also für die Evangelische Kirche? Nicht so ganz. Denn auf der einen Seite ließe sich die Zukunft nicht voraussagen, man könnte also auch keine konkreten Prognosen machen: "Denn wer hat beispielsweise mit der Wiedervereinigung gerechnet?" Und Angst davor, dass die Evangelische Kirche mit der abnehmenden Bevölkerung verschwinden könnte, hat Latzel nicht: "So lange es diese Erde gibt, wird es eine Kirche Jesu Christi geben".
Maike Freund ist Redakteurin bei evangelisch.de.