Salomon Wantchoucou sitzt vor seinem vergilbten Computermonitor und tippt, wie so oft. Auf Tisch und Fensterbank stapeln sich Bücher: Die Bibel, der Koran ein Schülerduden mit dem Titel "Politik und Gesellschaft". Die Internetverbindung ist schlecht. "Das liegt am Wind", sagt er, "und an den hohen Bäumen überall."
Doch der 38-jährige Mann aus Benin hat Geduld. Schließlich geht es nicht nur um seine eigene Freiheit, sondern auch um die seiner rund 200 Mitbewohner, den Asylbewerbern in der "Gemeinschaftsunterkunft" zwei Kilometer hinter dem Dorf Möhlau in Sachsen-Anhalt, mitten in der Einöde.
Sie leben in einem grauen Plattenbau, vier Stockwerke hoch. Die übrigen Gebäude auf dem Gelände stehen leer, ihre Türen sind mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschlagen. Ein hoher Zaun umgibt das Grundstück, drum herum Einöde. Im Hof hat jemand ein altes Wandrelief frei gekratzt: Es zeigt Sowjetsoldaten, ihr Blick stahlhart und grimmig. Vor der Wende war das Lager eine Kaserne der russischen Armee. Damals gab es Bars, Geschäfte, ein Kino. Heute pfeift kalter Wind durch die undichten Fenster. Ins Dorf ist es eine halbe Stunde zu Fuß, von da aus fährt nicht einmal alle Stunde ein Bus zur nächsten Stadt Gräfenhainichen. So abgeschottet können die Bewohner weder Integrationskurse besuchen, noch gibt es in der Nähe eine psychosoziale Beratungsstelle für Opfer von Krieg und Verfolgung. Von den Möglichkeiten, einen Sportverein oder einen Flohmarkt zu besuchen, ganz zu schweigen.
Asylbewerber werden gegängelt wie kleine Kinder
Wantchoucou ist seit zehn Jahren in Deutschland. Er konnte in dieser Zeit weder arbeiten, noch sein Studium beenden oder eine Familie gründen. Bis heute ist er nur geduldet, weiß nie, wann er vielleicht abgeschoben wird. Drei Mal bewarb er sich schon um Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung, denn in Benin ist das Leben des politischen Aktivisten in Gefahr. Mal dauerte es ein Jahr, manchmal zwei, bis eine Antwort kam, und immer war es ein Ablehnungsschreiben. Er könne ein Wirtschaftsflüchtling aus einem anderen afrikanischen Land sein, unterstellte man ihm. Wieder und wieder schickten ihn die deutschen Beamten zu Sprachtests. "Wenn Sie Englisch können, können Sie ja kein Beniner sein", bekam er zu hören. Schließlich gelang es ihm, als Beweis für seine Herkunft eine Kopie seiner Geburtsurkunde aus seiner Heimatstadt zu beschaffen. Vor Zwei Jahren legte er sie der Ausländerbehörde vor. Eine Antwort hat er noch nicht erhalten.
In der Möhlauer Unterkunft wohnen fast nur Menschen, die wie er darauf warten, dass die Ausländerbehörde über ihr Bleiberecht entscheidet. Sie dürfen in keine eigene Wohnung ziehen und nicht arbeiten. Keiner hat ein Bankkonto. Die Asylbewerber von Möhlau werden gegängelt wie kleine Kinder und von der Gesellschaft abgeschottet, als seien sie gefährliche Straftäter.
Ein Mann verlässt sein Zimmer nicht mehr. Zwei andere haben sich das Leben genommen. Alle anderen haben das Warten ertragen, irgendwie. Manche fünf, andere zehn oder fünfzehn Jahre lang. Aber Wantchoucou kann nicht akzeptieren, dass Menschen im wohlhabenden Deutschland so hausen müssen: "Wenn die Leute nicht schon durch Krieg oder Folter traumatisiert sind, dann werden sie es spätestens hier. Jemanden 15 Jahre in ein Lager zu sperren, ist unmenschlich." Als er 2008 aus einem anderen Heim nach Möhlau gebracht wurde, habe er sofort das Leid, die Depression in den Augen der Menschen gesehen, erzählt Wantchoucou rückblickend. "Ihre Blicke sprachen Bände."
In der Schulter steckte noch die Kugel, mit der man versucht hatte, ihn zu töten
Wantchoucou hat eine kräftige Stimme. Er gestikuliert mit seinen großen Händen, bewegt sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, während er spricht. Wenn ihm ein Wort auf Englisch nicht gleich einfällt, sagt er es in brüchigem Deutsch oder in seiner Muttersprache Französisch. Hauptsache, die Botschaft erreicht sein Gegenüber.
Als er im September 2001 nach Deutschland kam, steckte in seiner linken Schulter noch die Kugel, mit der man versucht hatte, ihn zu töten. Seit seinem 18. Lebensjahr war Wantchoucou in seinem Heimatland Benin politisch aktiv und prangerte die Korruption des Diktators Mathieu Kérékou an. "Für Prestigeprojekte gibt die Regierung ein Vermögen aus, aber auf dem Land verhungern die Menschen", so Wantchoucous Vorwurf.
Der Schuss fiel im Frühjahr während einer Demonstration. Er ist sich sicher, dass der Geheimdienst der Regierung hinter dem Anschlag steckt. Kaum hatte er das nötige Geld zusammen, floh er. In Marokko versteckte er sich auf einem Frachter, harrte zwei Wochen lang neben dem Maschinenraum aus. In Deutschland kämpft Wantchoucou weiter – diesmal gegen die Unterbringung in Möhlau. Kaum im Lager angekommen, klopfte er an die Türen aller Nachbarn. "Wollt ihr das wirklich länger hinnehmen?", fragte er sie. "Wollt ihr nicht gegen diese Zustände protestieren?"
"Hier ist es einsam und dunkel, und wir fürchten uns vor den Wildschweinen"
Er schaffte es, dass erstmals Deutsche in das Heim kamen, um sich ein Bild zu machen. Gründete mit andern Bewohnern die "Flüchtlingsinitiative Möhlau", die Nachrichten und Protestbriefe im Internet veröffentlicht und Demonstrationen organisiert. Die Asylbewerber fordern, dass das Heim geschlossen wird, und dass sie in der Kreisstadt Wittenberg untergebracht werden. "Wir brauchen ein vernünftiges Umfeld für unsere Kinder", sagt eine Mutter, die ihren Namen nicht im Internet lesen will, "hier ist es einsam und dunkel, und wir fürchten uns vor den Wildschweinen" – "Wir fordern unsere Freiheit, damit wir uns integrieren können", sagt die 15-jährige Kurdin Susan Ali. Ihr Deutsch ist perfekt, ihre Schulnoten sind gut, aber deutsche Freunde hat sie keine.
"Der Fehler liegt im System", sagt Bernd Mesovic vom Förderverein Pro Asyl. "In erster Linie zählt nicht, dass die Leute vernünftig untergebracht sind, sondern dass sich das Ganze finanziell lohnt." Denn das Asylbewerberheim gehört weder dem Bundesland Sachsen-Anhalt, noch dem zuständigen Landkreis Wittenberg, sondern einer privaten Betreibergesellschaft, der Zeitzer "KVW Beherbergungsbetriebe GmbH". 7,18 Euro erhält das Unternehmen, das noch zwei weitere Heime betreibt, vom Landkreis pro Bewohner und Tag. Das ist im Bundesvergleich wenig. Das kann sich nur lohnen, wenn man die Ausgaben gering hält, etwa in dem man statt zentral gelegener Wohnungen eine Baracke im Wald zur Verfügung stellt.
"Wir versuchen Mängel so gut es geht jeden Tag abzubauen", sagt Marcel Wiesemann, Geschäftsführer der KVW, "wie man das auch in einem ganz normalen Mietshaus macht." Doch ein normales Mietshaus sieht anders aus: In Möhlau macht sich Schimmel in Fluren und Badezimmern breit, Kakerlaken krabbeln über den Fußboden. Kinder spielen auf dem Hof und in den leer stehenden Bauten zwischen Glasscherben und vor sich hin rottendem Müll. Wiesemann hat für diesen Zustand seine eigene Erklärung: "Den Bewohnern scheint es schwer zu fallen, es sich an diesem Ort schön zu machen."
Es macht sich Schimmel breit, Kakerlaken krabbeln über den Fußboden
Ein Hoffnungsschimmer erglimmt Ende 2010 für die Lagerbewohner: Der Landkreis beschließt, eine Alternative zu suchen, und veröffentlicht eine Ausschreibung für neue Unterkünfte. Nun steht fest: Ab Februar 2012 soll das Möhlauer Heim saniert werden, und Familien mit Kindern sollen aus dem Möhlauer Lager ausziehen dürfen. Die Wohnungen liegen in Vockerode, ein Stadtteil der in diesem Jahr aus mehreren versprengten Gemeinden gegründeten Stadt Oranienbaum-Wörlitz.
Vockerode ist nicht der Nabel der Welt, doch liegen die Wohnungen wenigstens im Ortsinneren statt außerhalb, und in einer halben Stunde ist man mit dem Bus in der nächsten Stadt Dessau. Doch zuständig für die Vockeroder Wohnungen ist ausgerechnet Marcel Wiesemann, der auch für den desolaten Zustand des Heims in Möhlau verantwortlich ist. Dessen Bewohner haben längst das Vertrauen verloren, dass er in die "neuen" Unterkünfte, seit Jahren leer stehende Plattenbauten, mehr investieren wird als in das alte Heim. Auch glauben sie nicht, dass Wiesemann für die Instandsetzung des Möhlauer Lagers viel mehr tun wird, als ein paar Wände zu streichen.
Für Wantchoucou, der die Proteste angestoßen hat, wird sich wenig ändern – außer, dass es ab Februar noch einsamer werden wird in Möhlau. Er gehört zu den "Alleinreisenden", wie Asylbewerber ohne Familien im Bürokratendeutsch genannt werden, die weiter in dem Lager wohnen müssen. Doch Wantchoucou wäre nicht Wantchoucou, wenn er diesen Zustand hinnehmen würde. "Ich werde weiterkämpfen", sagt er. "Für eine Gleichbehandlung von Alleinreisenden und Familien."
Sara Mously ist freie Jouranlistin und lebt in Hamburg.
Sascha Montag arbeitete als Fotograf für dpa und anschließend für die Agentur Zeitenspiegel.