Der Arabische Frühling, der das ganze Jahr dauerte
Tunesien, Ägypten, Libyen - In den arabischen Ländern hat sich 2011 das Volk gegen despotische Machthaber erhoben. Es ist ein Signal, das weit über die Region hinauswirkt. Auch in China schöpfen Demokraten Hoffnung.
20.12.2011
Von Marc Engelhardt

Tawakkul Karman sitzt im Auto, als sie am 14. Januar aus dem Radio die Nachricht aus Tunis erfährt: Tunesiens Präsident Zine al-Abidine Ben Ali ist aus dem Amt gejagt. Mehr als 10.000 Demonstranten haben wenige Stunden zuvor noch in Tunis den Rücktritt des seit 24 Jahren regierenden Despoten gefordert. Und jetzt sitzt er im Flugzeug, auf der Flucht vor seinem Volk. Es ist der Auftakt zu einer Serie von Umbrüchen in der arabischen Welt.

Bei der Jemenitin Tawakkul Karman macht es an diesem Abend im Januar klick. Wenn in Tunesien die Jasmin-Revolution gelingt, dann ist auch in ihrer Heimat, dem Jemen, die Erneuerung möglich, denkt die Frau, die fast elf Monate später in Oslo den Friedensnobelpreis in Empfang nehmen wird. Am nächsten Tag stellt sie sich mit Freundinnen auf den Platz vor Sanaas Universität. Erst kommen nur einige Dutzend, um den Rücktritt des Präsidenten Ali Abdullah Saleh zu fordern. Dann werden es immer mehr, vor allem, als Karman festgenommen wird. Tausende stellen sich hinter Jemens Freiheitsheldin.

Kenner der arabischen Welt sind sich einig: Wenn im Jemen, dem Armenhaus Arabiens und einem der konservativsten Länder der Region, eine Revolution unter der Führung einer Frau möglich ist, dann ist alles drin. Doch erst mal machen die anderen die Schlagzeilen. Knapp einen Monat nach Ben Ali zieht sich am 11. Februar in Ägypten Staatschef Husni Mubarak zurück, das Land am Nil jubelt. Kairos Tahrir-Platz, Zentrum der Proteste, wird in der ganzen arabischen Welt zum Symbol - zum Beispiel für die Menschen in Libyen, wo ebenfalls im Februar die Proteste gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi beginnen.

Die Demonstranten wollen Demokratie - nichts anderes

In Ägypten machen die Demonstranten auch nach dem Mubarak-Rücktritt immer wieder klar: Sie wollen Demokratie, nichts anderes. Achmed Harara ist einer von denen, die sich nicht mit einer halben Revolution begnügen wollen. Wegen seiner außergewöhnlichen Geschichte hat ihn das US-Nachrichtenmagazin "Time" als "Person des Jahres 2011" ausgezeichnet. Als er im Januar auf dem Tahrir-Platz demonstrierte, zerstörte ein Gummigeschoss ein Auge des 31-jährigen. Im November demonstrierte Harara trotzdem erneut. Ein weiteres Gummigeschoss nahm ihm auf dem Tahrir auch sein zweites Auge.

Harara sagt, er habe in diesem Jahr zwei denkwürdige Tage erlebt: den ersten großen Massenprotest in Kairo am 28. Januar - und den Tag, als amerikanische Aktivisten die Wall Street in Beschlag nahmen. "Der brutale Kapitalismus gehört abgeschafft", sagt Harara. "Die Amerikaner haben für das gleiche demonstriert wie wir: soziale Gerechtigkeit." Die Occupy-Wallstreet-Bewegung - ein Kind der arabischen Revolution?

Zumindest hat sie die gleichen Ursachen, glaubt der amerikanische Anthropologe David Graeber. Sein Buch "Debt" (Schuld) avancierte in diesem Jahr zum spannendsten Versuch, die Aufstände überall auf der Welt zu erklären. Praktisch alle Umstürze der vergangenen 5.000 Jahre führt Graeber auf Überschuldung zurück - individuell und gesellschaftlich. In Tunesien ist es der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi, der seine Schulden nicht zurückzahlen kann, und der sich aus Verzweiflung selber ansteckt - und damit die arabische Revolution auslöst.

Der Protest der chinesischen Bauern ist in eine offene Demonstration für Demokratie umgeschlagen

Folgt man den Argumenten Graebers, dann droht auch Europa zu zerfallen, weil seine Staaten und Bürger überschuldet sind. Er spitzt die Analyse zu: Menschen, die arbeiten müssen, um eine in ihrer Lebzeit gar nicht mehr abtragbare Schuld abzutragen, gab es schon in der Antike - sie hießen Sklaven.

Aus dieser Perspektive ist es kein Wunder, dass in den vergangenen Wochen auch Aufstände aus Russland und sogar aus China bekannt werden. Der heftige Protest der 20.000 chinesischen Bauern in Wukan richtete sich zunächst gegen Zwangsenteignungen, ist mittlerweile aber in eine offene Demonstration für Demokratie umgeschlagen. "Rexue Tuan", Gruppe der Heißblütigen, nennt sich der Kern der Demonstranten.

Ihre Heißblütigkeit werden sie - ebenso wie die Demonstranten in Ägypten, dem Jemen oder Syrien - auch im Jahr 2012 brauchen. Im Jemen etwa ist Machthaber Saleh zwar offiziell abgetreten, doch ob der Jemen demokratisch wird, ist noch vollkommen unklar. Vergleichbar ist die Lage in Ägypten, wo sich der Widerstand des Volkes nun gegen den regierenden Militärrat richtet.

epd