Könnten Sie mir sagen, wo sich die Fotos von Ihrer Einschulung oder Ihrer Matura befinden?
Viktor Mayer-Schönberger: Bis vor wenigen Jahren in den (analogen) Archiven meiner Schule und in meinem Fotoalbum. Aber dann beschloss meine Schule die Maturafotos der letzten 30 Jahre online zu stellen, und mittlerweile hat Google das Foto gefunden und indexiert. Eine Google-Suche findet also das Foto (und meinen 80er-Haarschnitt).
Allzu begeistert scheinen Sie nicht, dass das Netz Ihnen diese Archivierungsaufgabe abnimmt. Nun will Facebook das Ganze auf die Spitze treiben: Mit der neuen "Timeline"-Funktion gibt die Möglichkeit, eine digitale Chronik Ihres gesamten Lebens anzulegen - ab der Geburt, nicht etwa erst ab der Facebook-Registrierung ...
Mayer-Schönberger: Ich finde die "Timeline" aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen, weil damit viele Statusmeldungen und Fotos plötzlich wieder zugänglich werden, die Facebook-Nutzerinnen und Nutzer vergessen wähnten. Zum zweiten, weil die Funktion suggeriert den Verlauf eines Lebens darzustellen, obwohl sie lediglich einzelne Facetten herausreißt und dekontextualisiert wiedergibt. Zum dritten, weil die Funktion Vollständigkeit impliziert, und das Ergebnis doch stets nur eine sehr unvollständige Ansammlung ist. Und schließlich, weil ich davon überzeugt bin, dass zu vergessen eine Tugend ist, die wir nicht aufgeben dürfen.
Das müssen Sie nun kurz erläutern. So viele Menschen hadern mit ihrem schlechten Gedächtnis - und Sie erklären es zur Tugend?
Mayer-Schönberger: Ja. Erst durch das Vergessen können wir Menschen generalisieren und abstrahieren. Ohne Vergessen würden wir stets nur Bäume sehen, nie aber den Wald. Ohne Vergessen fällt es uns Menschen auch sehr schwer zu vergeben – uns selbst und anderen. Und gerade durch das Vergessen schaffen wir auch wieder Raum Neues zu lernen.
"Die Ausübung der Löschfunktion
ist aufwändig geworden -
aufwändiger als zu speichern."
Nun geht der Trend immer mehr dahin, möglichst das ganze Leben zu protokollieren. Nicht nur was ich tippe, auch was ich lese, höre oder schaue, gar wie schnell ich zuletzt gejoggt bin - Facebook möchte es festhalten. Ist das nicht eine Chance auf unmittelbare Teilhabe, egal wie weit Freunde entfernt sind?
Mayer-Schönberger: Ja - das wird suggeriert, und gleichzeitig ist das Ergebnis enttäuschend. Denn nur digitalisierte Informationen werden gespeichert, und das schließt vieles aus. Auch wird die Teilhabe damit auf einen oder ein paar Sätze reduziert. Das Gefühl, virtuell dabei gewesen zu sein, gewinnt an Bedeutung im Vergleich zur Möglichkeit, durch reflektierte Gedanken auch emotional wie intellektuell teilhaben zu lassen.
Immerhin ist es doch so, dass ich prinzipiell selbst in der Hand habe, welche Informationen über mich ich ins Netz stelle. Und auch bei Facebooks Timeline soll es möglich sein, alle Einträge nachträglich wieder zu löschen.
Mayer-Schönberger: Ja, das ist richtig. Aber trotzdem hat sich etwas Entscheidendes verändert: Die Ausübung der Löschfunktion ist aufwändig geworden - aufwändiger als zu speichern. Das bedeutet in der Praxis, dass die meisten Menschen nicht löschen, sondern die Ihnen von Facebook auferlegte Standardeinstellung - nämlich dauerhafte Speicherung ohne Enddatum - erhalten bleibt.
In Ihrem Buch kritisieren Sie auch, dass Firmen wie Facebook oder Google die Zuständigkeit für das Erinnern von öffentlichen Institutionen übernommen hätten. Wo liegt das Problem?
Mayer-Schönberger: Als Gesellschaft haben wir entschieden, uns an Bestimmtes aus unserer kollektiven Vergangenheit zu erinnern. Dafür haben wir bestimmte Institutionen, etwa Museen und Archive, zuständig gemacht. In Zeiten von Facebook und Google kommen viele Politiker auf die Idee, man könnte diese Erinnerungsinstitutionen einsparen, denn die Erinnerung würde ja "das Internet" ohnehin schon leisten. Das wäre schlimm, denn dann würden wir unsere gesellschaftliche Entscheidung, was zu erinnern ist, an Google und andere delegieren, also an kommerzielle Anbieter mit kommerziellen Interessen.
"Viele junge Leute haben gleich mehrere
Facebook-Profile, und eines davon
ist 'sauber' und 'ordentlich'"
Bei aller Notwendigkeit zur Kritik - kann man sich diesen den Datenkraken noch entziehen? Sie haben selbst ein Facebook-Profil ...
Mayer-Schönberger: Ja, ich habe ein Facebook-Profil und kuratiere es sehr intensiv, poste nur sehr wenig. Auch akzeptiere ich nur Freunde auf Facebook, die ich davor schon kannte. Da bin ich übrigens in guter Gesellschaft: Viele junge Leute haben gleich mehrere Facebook-Profile, und eines davon ist "sauber" und "ordentlich", um es bei Arbeitssuche und ähnlichen Anlässen anführen zu können.
Diese digitale Persönlichkeitsspaltung klingt auch nicht nach der optimalen Lösung. In Ihrem Buch plädieren Sie stattdessen für ein generelles Verfallsdatum für alle Daten. Also eine im Prinzip nicht besonders schwierige technische Lösung: Jedesmal, wenn ich ein Bild, einen Kommentar oder eine ganze Website ins Netz stelle, müsste ich einen Zeitpunkt angeben, wann diese Informationen automatisch wieder gelöscht, also vergessen werden. Aber ist das durchsetzbar in einer Branche, die global agiert, aber nur auf staatlicher Ebene reguliert werden kann?
Mayer-Schönberger: Ja, absolut. Wenn es etwa der EU gelingt, mit den zehn größten Anbietern am Netz überein zu kommen, ein Verfallsdatum einzuführen, dann hätten wir über 90 Prozent (!) des weltweiten Internet-Traffics bereits abgedeckt. Selbst wenn nur Google und Facebook mitmachen, sind schon fast 3/4 des weltweiten Informations-Traffics erreicht. Google hat die technische Lösung schon implementiert, was den Suchindex betrifft. Und auch wenn es irgendwo im Web verfügbar ist: Was nicht (mehr) in Google indexiert ist, ist praktisch gesehen vergessen.
Das Interview hat evangelisch.de erstmals am 19. Dezember 2011 veröffentlicht.
Der Österreicher Viktor Mayer-Schönberger hat mit "Delete: Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten" im Jahr 2010 ein preisgekröntes Werk über die Gefahren des ewigen digitalen Gedächtnisses vorgelegt. Der studierte Jurist hat in den 1980ern das IT-Sicherheitsunternehmen Ikarus Software gegründet, lehrte zehn Jahre an in Harvard und ist heute Professor für Internet-Governance und -Regulierung am Internet Institute der Universität Oxford.
Ulrich Pontes ist freier Journalist in Mainz und interessiert sich besonders dafür, wie Wissenschaft und Technik unser Miteinander sowie unser Menschen- und Weltbild verändern.