Sieh an: Manche Kirchen sind nicht nur an Weihnachten voll
Junge Familien beten neben Rentnern und Studenten: Obwohl die beiden großen Kirchen Mitglieder verlieren, gibt es Gemeinden, die wachsen - gegen den allgemeinen Trend.
18.12.2011
Von Karsten Packeiser

An Weihnachten können die Kirchen kaum alle Gottesdienstbesucher fassen. Doch vielerorts haben sich die evangelischen Gemeinden damit abgefunden, dass ihre Pfarrer nur noch an besonderen Feiertagen auf voll besetzte Bänke blicken. Sie halten es für den unabänderlichen Gang der Dinge, dass junge Leute sich nach der Konfirmation nie mehr blicken lassen. Dabei gibt es Beispiele, die zeigen, dass es ganz anders geht.

In der Mainzer Auferstehungsgemeinde direkt neben dem SWR-Funkhaus sind fast immer alle Plätze besetzt. Wer zum ersten Mal einen Gottesdienst in dem spröden Nachkriegs-Betonbau mit dem Charme eines Ostblock-Kulturhauses besucht und noch einen Sitzplatz findet, bemerkt sofort einige Besonderheiten. Neben der Orgel spielen Musiker am Flügel und auf der Querflöte, viele Liedtexte stammen nicht aus dem Gesangbuch der Landeskirche, sondern aus einer selbst erstellten Sammlung moderner Kirchenlieder.

Beifall zur Taufe

Im Kirchenraum sitzen junge Familien mit Kindern neben Rentnern und Studenten. Lied- und Gebetstexte werden an die Wand projiziert. Ein junger Mann wird getauft und mit langem Beifall in der Gemeinde willkommen geheißen. Parallel zur Predigt finden vier Kindergottesdienste statt. Jeden Sonntag wird Abendmahl gefeiert. Anderthalb Gemeindepädagogenstellen finanziert die Auferstehungsgemeinde komplett aus Spenden ihrer Mitglieder, stolze 80.000 Euro jährlich bringen sie dafür auf.

"Die Besucherzahl sagt zunächst nichts über die geistliche Qualität", sagt Pfarrer Stefan Claaß, der auch als Sprecher beim "Wort zum Sonntag" im Fernsehen zu sehen ist. "Aber es macht Mut zu sehen, dass viele auf demselben Weg unterwegs sind."

Laut offizieller Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) besucht sonntags bundesweit etwa eine Million Protestanten einen Gottesdienst, das sind gerade noch vier Prozent der Kirchenmitglieder. Der emeritierte Heidelberger Theologieprofessor Wilfried Härle hat 2008 die Entwicklung in mehr als 30 aufstrebenden Kirchengemeinden in Deutschland dokumentiert und seine Ergebnisse in dem Buch "Wachsen gegen den Trend" zusammengestellt. Inzwischen ist es in dritter Auflage erschienen.

Neid auf die wachsende Gemeinde

Härle hat etliche Einladungen zu Vorträgen und Diskussionen erhalten und ist dabei auf enormes Interesse gestoßen, aber auch auf breite Skepsis und Ängste. Bei einem EKD-Kongress habe etwa ein Delegierter aus der Pfalz die Idee einer wachsenden Kirche mit den Worten verworfen: "Wir wollen nicht wachsen, wir wollen fröhlich schrumpfen."

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"Wachsende Gemeinden lösen fast automatisch Neid aus", sagt Härle. Der Theologe wünscht sich statt einer Abgrenzung mehr freiwillige Kooperation über Gemeindegrenzen hinweg. Unterschiedliche Schwerpunkte bei Gottesdienstformen und Gemeindeaktivitäten könnten insgesamt eine größere Gruppe von Menschen ansprechen, gerade in Großstädten.

Doch selbst wenn Pfarrer und ehrenamtliche Mitarbeiter alles richtig machten, gebe es keine Wachstumsgarantie, dämpft Härle die Erwartungen. Die meisten wachsenden Kirchengemeinden weisen allerdings eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Das Angebot richtet sich verstärkt an junge Familien, im Gottesdienst erklingt viel moderne Musik, und theologisch sind viele Gemeinden eher im evangelikalen Spektrum der jeweiligen Landeskirchen verortet.

Plötzlich zehnmal so viele Kirchgänger

Eine große Rolle spielen Ehrenamtliche. Ein charismatischer Pfarrer alleine könne nicht auf Dauer Hunderte von Gemeindemitgliedern binden, meint Härles Co-Autor Jörg Augenstein, Kirchenrat in Karlsruhe.

In Ludwigshafen hat Pfarrer Gunter Schmitt seine Gemeinde im evangelischen Bonhoeffer-Zentrum darauf eingeschworen, dass sie sich verändern müsse, wenn sie missionarisch aktiv sein und neue Menschen erreichen wolle. Seit dort auch spezielle Gottesdienste für Kirchendistanzierte und Suchende gefeiert werden, stieg die Zahl der Kirchgänger von einst 20 bis 30 explosionsartig auf etwa 350 an.

Weil der eigene Gottesdienstsaal zu klein wurde, treffen sich die Protestanten mittlerweile in den größeren Räumen der katholischen Gemeinde. Allerdings reicht selbst diese Kapelle nicht mehr aus: Schmitt feiert daher seinen "anderen" Gottesdienst inzwischen zweimal hintereinander.

epd