Wenn es um "arme Kinder" geht, denken wir spontan an Länder wie Somalia, Afghanistan, vielleicht Brasilien. Vor unseren Augen erscheinen hungernde Kinder, Flüchtlingskinder, Straßenkinder, in Lumpen gekleidet und mit bettelnden Blicken. So wichtig und berechtigt die Aufmerksamkeit für Armut in Entwicklungsländern ist - auch an Kinder in Deutschland lohnt es sich zu denken. Auch sie werden im Unicef-Bericht zur Lage der Kinder, der an diesem Freitag veröffentlicht wird, vorkommen.
Im vergangenen Jahr gab es ebenfalls einen Unicef-Bericht zur Lage der Kinder. Darin lag Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern im Mittelfeld auf Platz acht (am besten geht es Kindern in den Niederlanden). Das größte Problem in Deutschland ist laut Unicef die Situation alleinerziehender Mütter, die besonders stark von materieller Armut betroffen sind. "Selbst wenn sie es schaffen, berufstätig zu sein, ist es ihnen kaum möglich, der Armut zu entkommen", heißt es in dem Bericht.
"Bedürftige Kinder schließen sich selbst aus"
Doch Geld ist nicht alles. "Armut" bedeutet für Kinder nicht nur Mangel an Nahrung, Kleidung oder Weihnachtsgeschenken. "Arme Kinder sind von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen", heißt es vom Kinderschutzbund. "Häufig sind negative Auswirkungen auf die Gesundheit, das Selbstbild und Selbstwertgefühl, das individuelle Wohlbefinden und die Entwicklung von kognitiven und sozialen Kompetenzen die Folge. Nicht zuletzt durch die PISA-Studien belegt ist außerdem, dass deutlich schlechtere Chancen auf einen guten Bildungsabschluss bestehen." Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, sagte zum Weltkindertag 2011: "Bedürftige Kinder trauen sich weniger zu und schließen sich dadurch selbst aus."
[listbox:title=Kinderarmut: Zahlen und Fakten[Nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes leben insgesamt über 2,5 Millionen Kinder in Deutschland in Einkommensarmut, das sind 18,7 Prozent der unter 18-jährigen. Das statistische Bundesamt ermittelte in diesem Jahr, dass jedes sechste Kind unter 18 Jahren von Armut bedroht sei. Zwei Millionen Kinder wuchsen 2010 bei nur einem Elternteil auf. Ein Drittel dieser Kinder lebt laut Statistischem Bundesamt von Hartz IV oder anderen Transferleistungen. Eine Forderung des Kinderschutzbundes lautet, jedes Kind müsse eine Unterstützung in Höhe von 276 Euro (bis zum 6. Lebensjahr), 332 Euro (bis zum 14. Lebensjahr) bzw. 358 Euro (bis zum 18. Lebensjahr) erhalten. Die Höhe des Kindergeldes liegt momentan bei 184 Euro für das erste Kind, die Hartz IV-Regelsätze je nach Alter des Kindes zwischen 215 und 287 Euro.]]
Selbstwertgefühl, Teilhabe am sozialen Leben, Menschenwürde - das sind Themen der Kirche. Im Jahr 2006 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland eine Denkschrift zum Thema Armut und gab ihr den Titel "Gerechte Teilhabe - Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität". Der damalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber schrieb in seinem Vorwort: "Ohne die Schaffung von Teilhabegerechtigkeit – insbesondere im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt – ist der traditionelle Verteilungsstaat unvollkommen." Die Kirche will nicht nur Almosen verteilen - sie will den Menschen helfen, ein eigenverantwortliches Leben in Würde zu führen.
Durch die Taufe habe die Kirche eine Mitverantwortung für den weiteren Lebensweg eines Kindes, hieß es bei der Kampagne "Lasst uns nicht hängen" der Evangelischen Kirche von Westfalen. Die Kampagne, die 2009 beendet wurde, hatte genau das zum Thema: Kinder in allen Lebensbereichen unterstützen und stärken. Eine ähnliche Kampagne unter dem Titel "Zukunft(s)gestalten" läuft in der Hannoverschen Landeskirche.
Keine Taufe, weil das Fest zu teuer ist
Damit Teilhabe nicht nur ein Schlagwort blieb, durften in Westfalen Kinder selbst ihre Themen formulieren: Auf einem Gipfel 2008 in Villigst schrieben sie eine Resolution. Darin heißt es zum Beispiel: "Arme Kinder haben wenig zu essen und hungern. Sie haben kein Pausenbrot oder essen ungesunde Sachen. Das macht die Kinder krank. WIR KINDER FRAGEN: KÖNNT IHR DA NICHTS MACHEN?" oder auch: "Arme Kinder sind manchmal nicht so gut in der Schule. Sie haben nicht die richtigen Schulsachen und die Eltern können ihnen oft nicht bei den Hausaufgaben helfen. WIR KINDER FRAGEN: SOLLEN ARME KINDER DUMM BLEIBEN?"
[listbox:title=Mehr im Netz[Der Unicef-Bericht zur Lage der Kinder 2010##Der Deutsche Kinderschutzbund zum Thema Kinderarmut##Die Kampagne "Lasst uns nicht hängen" in Westfalen##Die Kinderresolution##Das Gemeinsame Wort der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Lippischen Landeskirche und der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe zur Bekämpfung der Armut von Kindern in Nordrhein-Westfalen##Die Kampagne Zukunft(s)gestalten der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers##Das Jahr der Taufe 2011]]
Kirchengemeinden haben einen klaren Vorteil: "Sie sind nah an den Familien dran", erklärt Anja Lukas-Larsen vom "Lasst uns nicht hängen"-Kampagnenbüro. So kann Familien in Not gezielt und unbürokratisch geholfen werden. Sensibilisiert wurden die Kirchengemeinden auch dafür, dass sie selbst zur Ausgrenzung einkommensschwacher Familien beitragen: Durch teure Konfirmanden-Fahrten oder Jugendfreizeiten, die sich nicht alle leisten können.
Oder durch die gesellschaftlichen Anforderungen an eine Taufe: Hier war die Kampagnenleitung erschrocken über ein Umfrageergebnis, nach dem viele Eltern ihre Kinder gern taufen lassen würden, wenn sie nicht aus diesem Anlass ein großes, teures Fest ausrichten müssten. "Das widerspricht jedem Verständnis von Taufe", sagt Anja Lukas-Larsen. Deshalb seien einige Gemeinden dazu übergegangen, den Familien einen Rahmen für ihre Tauffeier anzubieten.
Auch Eltern mit höherem Einkommen müssten deutlicher wahrnehmen, dass es nicht allen Familien so gut geht wie ihnen, meint Anja Lukas-Larsen. Ihr ist im Verlauf der Kampagne aufgefallen, dass es heute zum Beispiel hohe Erwartungen an Kindergeburtstage gibt: Teure Geschenke, Fahrten in Abenteuerspiel-Parks, Essen bei McDonalds - "Wer sich das nicht leisten kann, feiert lieber gar nicht", stellt sie fest. Kindergeburtstage können auch mit einfachen Spielen oder einem Ausflug in die Natur Spaß machen.
Projekt in Ahlen: Ein "Lunch Club" für Kinder
Die Kampagne hat auf das Thema Kinderarmut aufmerksam gemacht. In zahlreichen Kirchenkreisen wurden bestehende Initiativen für Kinder unterstützt oder neue Projekte gestartet: eine Kleidertauschbörse in Gelsenkirchen, Nachhilfeunterricht in Paderborn, kostenfreie Ferienfreizeiten in Hamm. Und das Projekt wirkt nach: In Ahlen im Kreis Warendorf beispielsweise plant die evangelische Kirchengemeinde, einen spendenfinanzierten "Lunch Club" einzurichten, wo Kinder kostenlos Mittagessen bekommen. Dafür wird ein komplettes Gemeindehaus umgebaut, und der Verein "Lunch Club" stellt eigens einen Koch ein, der den Kindern am Wochenende gesundes Essen kocht. Das Projekt wird über Spenden finanziert.
Die Westfälische Landeskirche will das Engagement für Kinder nach dem Abschluss von "Lasst uns nicht hängen" weiterführen. Im Jahr 2009 formulierte die Landessynode: "Ziel muss sein, sich mit Kooperationspartnerinnen und -partnern an der sozialen Präventionskette von der Geburt bis zum Abschluss der Sekundarstufe I zu beteiligen. Wir wollen kein Kind verloren geben." Dabei müssten Akteure der Kinder- und Jugendhilfe, der formalen Bildung, des Gesundheitswesens und der familienbezogenen Einrichtungen miteinander vernetzt arbeiten. "So deutlich wir uns der Verantwortung für die Kinder in Armut stellen wollen, so klar erinnern wir den Staat daran, die Nöte und Benachteiligungen der Kinder endlich wahrzunehmen und darauf entsprechend zu reagieren" - das ist die Erwartung der westfälischen Kirche an die Politik.
Wer ist verantwortlich für das Wohl der Kinder? Der Staat, die Kirche, die Eltern - und auch die Kinder selbst. Jedenfalls wenn sie schon etwas älter sind. "Ihr Selbstvertrauen und ihre Rechte müssen grundlegend gestärkt werden", fordert Unicef im Bericht zur Lage der Kinder vom vergangenen Jahr. Der Autor der Studie, Prof. Hans Bertram von der Humboldt-Universität Berlin, verglich, welche Botschaften Jugendliche in verschiedenen Länder zu hören bekommen: Jungen Menschen in Deutschland werde meist Gefahr vermittelt, "nach dem Motto: ‚Pass auf, dass Du nicht scheiterst!'" Amerikanischen Jugendlichen in ähnlich ungünstigen Verhältnissen dagegen werde mitgegeben: "Du kannst es schaffen!"