Sicher scheint nur eines zu sein: Es bleibt nicht, wie es ist. Einem Bericht der "Bild"-Zeitung zufolge soll 2012 die bisherige Regelung zur Praxisgebühr fallen. Sie bestimmt bislang, dass pro Quartal zehn Euro für ärztliche Untersuchungen oder Behandlungen fällig werden, zusätzlich für Notfallbehandlungen im Krankenhaus und einmal pro Quartal bei Zahnärzten und bei Fachärzten, sofern keine Überweisung vorliegt. Privatpatienten und Jugendliche sind von der Gebühr ausgenommen, Beamte und Abgeordnete zahlen pauschal 20 Euro pro Jahr.
Die Hoffnung, dass die Menschen dadurch weniger zum Arzt gehen, hat sich mit der ungeliebten Zuzahlung freilich nicht erfüllt. Stattdessen hat sich gezeigt, dass trotz Befreiungsmöglichkeiten arme Menschen seltener zum Arzt gehen, auch wenn sie krank sind. Eine Folge: Die Lebenserwartung von Geringverdienern sinkt, während die Menschen in Deutschland insgesamt älter werden.
Entsprechend weisen Sozialexperten seit langem darauf hin, dass eine einheitliche Gebühr vor allem sozial Schwache benachteiligt - Arme sterben früher. Und kirchliche Einrichtungen wie "Luthers Waschsalon" in Hagen, die einmal für die kostenlose medizinische Versorgung von Obdachlosen gedacht waren, berichten über wachsenden Zulauf von Menschen, die sich die inzwischen obligatorischen Zusatzkosten nicht leisten können.
Kritiker zählen gleich eine ganze Reihe weiterer Nachteile auf, die mit der Zwangsabgabe einhergehen:
- Erheblicher bürokratischer Aufwand für die Arztpraxen (8,3 Millionen Arbeitsstunden allein im Jahr 2004).
- Verlängerung der Wartezeiten für die Patienten und Zeitverlust bei Krankenhaus-Notaufnahmen.
- Ansturm auf die Arztpraxen zu Quartalsbeginn und -ende (um Mehrfachzahlungen zu vermeiden).
- Überinanspruchnahme ärztlicher Leistungen, sobald die zehn Euro bezahlt sind nach der Devise "ich will was für mein Geld", dadurch
- keine Kosteneinsparung.
- Angst des Praxispersonals, ausgeraubt zu werden.
Eigentlich müsste die Gebühr abgeschafft werden
Der größte Mangel des geltenden Systems allerdings ist dessen Wirkungslosigkeit, wie auch der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CSU), in diesen Tagen gegenüber der "Frankfurter Rundschau" feststellte: "Die Praxisgebühr hat ihre Steuerungsfunktion verloren, wenn sie sie je gehabt hat", sagte Zöller. Die Patientenzahlen sind nämlich nicht dauerhaft zurückgegangen. Aktuell gehen die Deutschen durchschnittlich 18 Mal jährlich zum Arzt - die Schweden drei Mal.
Da obendrein erhebliche negative Folgen für die Gesundheit ganzer Bevölkerungskreise beobachtet werden, läge eigentlich nichts näher, als die Regelung wieder abzuschaffen. Und tatsächlich erwägt die schwarz-gelbe Koalition, die Praxisgebühr in der jetzigen Form abzuschaffen. Das Problem: Auf die jährlichen Gesamteinnahmen durch die Gebühr von 2,6 Milliarden Euro will niemand mehr verzichten.
Immerhin sieht der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag eine Überprüfung des Gesetzes vor. In der CDU wird "Bild" zufolge erwogen, statt der zehn Euro pro Quartal künftig bei jedem Arztbesuch eine Gebühr von bis zu fünf Euro zu erheben. Das lehnt die FDP zwar derzeit ab, und ein Sprecher von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) stellte schnell klar: "Überlegungen, die Praxisgebühr pro Arztbesuch zu erheben, stammen nicht aus dem Bundesgesundheitsministerium." Bereits im Juli 2010 dementierte sein Haus entsprechende Gerüchte. Doch die halten sich hartnäckig, und SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles wirft der Koalition vor: "Trotz aller Dementis: Man merkt, wohin die Reise gehen soll." Eine Praxisgebühr von fünf Euro pro Arztbesuch werde vor allem Rentner besonders hart treffen.
Die Einführung kam nach und nach
Unrealistisch ist die Vermutung nicht, man wolle die Praxisgebühr - die korrekterweise "Kassengebühr" heißen müsste - nicht nur erhalten, sondern für viele Betroffene sogar noch erhöhen. Das zeigt ein Blick auf die schleichende Entstehungsgeschichte der aus dem Alltag kaum noch wegzudenkenden Sonderzahlung: Erstmals erwähnt wurde sie in einem "Focus"-Artikel Ende Mai 2000 mit dem Untertitel "Die grüne Ministerin Andrea Fischer irritiert SPD und Opposition mit immer neuen Vorstößen".
Im November 2000 empfahlen zunächst "Wirtschaftsweise", dann die Rürup-Kommission ein Pflicht-Inkasso "zur Erhöhung des Kostenbewusstseins". Die Einführung der Praxisgebühr kündigte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder dann Anfang 2003 an; Gesetz wurde sie im November 2003, im Juli 2004 ergänzt um die Bestimmung, dass sie nur einmal pro Praxis und Quartal anfällt. Die damit einhergehenden Versprechungen wurden von Regierungsseite jedoch nie überprüft, das Instrument Praxisgebühr seit seiner Einführung nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Zu sehr hat man sich an die Milliardeneinnahmen für die Krankenkassen gewöhnt, trotz des denkbar uneffektiven Verfahrens.
An den Gesunden verdienen statt an den Kranken
Für die Versicherten steht nach sieben Jahren unterm Strich eine Verschlechterung. Die Summe der inzwischen geforderten Gesundheitsausgaben durch die Praxisgebühr, "durch Zuzahlungen für stationäre Leistungen, für Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen, für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, sondern auch für Haushaltshilfen und für Fahrkosten" sind einem EKD-Positionspapier vom Herbst 2010 zufolge darum vor allem für chronisch Kranke und Menschen mit Behinderungen "mit einem solidarischen Gesundheitssystem … nicht kompatibel".
Dabei gibt es alternative Denkmodelle. Um die Versorgung aller Bevölkerungsschichten zu verbessern und gleichzeitig zu erreichen, dass die Menschen seltener zum Arzt gehen, könnte man beispielsweise die Vorbeugung stärken: Beratung durch den Mediziner etwa höher honorieren als mit den jetzigen, lächerlich niedrigen Sätzen, man könnte Kurse für richtige Ernährung und Bewegung finanzieren, psychosoziale Angebote zum Beispiel für Depressive fördern und Ärztegemeinschaften, die sich über die Fachgrenzen hinweg mit den oft komplexen Krankheitsursachen beschäftigen.
Transparenz - aber nicht für alle
Daneben könnte mehr Kostentransparenz das Gesundheitsbewusstsein und die viel beschworene Eigenverantwortung ebenso stärken wie vermutlich die Kosten drücken: Nach wie vor erhalten Kassenpatienten von den Ärzten keine Abrechnungskopie ihrer Behandlungskosten. Diese Form der Transparenz ist ausdrücklich nicht gewünscht, angeblich um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht zu stören - was bei Privatpatienten, die stets eine Leistungsauflistung erhalten, aber offenbar kein Hinderungsgrund ist.
Man könnte die Vergütung niedergelassener Mediziner auch grundsätzlich ändern. So werden anderswo Hausärzte nicht dafür bezahlt, möglichst viele Patienten zu haben, sondern dafür belohnt, wenn möglichst wenige Menschen ihres (vorher festgelegten) Einzugsgebiets ärztliche Hilfe beanspruchen. Auf diese Weise verdienen die Mediziner an den Gesunden, nicht an den Kranken.
Keiner dieser Punkte wird derzeit in den Regierungsparteien diskutiert.
Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.