TV-Tipp des Tages: "In den besten Jahren" (ARD)
Dieser Film war überfällig: Hartmut Schoens großartig gespieltes Drama gibt den namenlosen Opfern des RAF-Terrors Gesicht und Stimme.
13.12.2011
Von Tilmann P. Gangloff

"In den besten Jahren", 14. Dezember, 20.15 Uhr im Ersten

Der Rückblick auf vergangene Ereignisse ist stets von zwei ungeschriebenen Gesetzen geprägt: Geschichte erzählt immer die Geschichte der Sieger; und Täter sind immer interessanter als Opfer. Daraus ergibt sich eine grausige Gleichung: Die Täter sind am Ende auch Sieger. Die Opfer geraten rasch in Vergessenheit, aber die Namen der Täter bleiben in Erinnerung. Deshalb war ein Film wie Hartmut Schoens Drama "In den besten Jahren" überfällig: weil er den namenlosen Opfern des Terrors, den so genannten kleinen Leuten, die doch angeblich befreit werden sollten, Gesicht und Stimme gibt.

Hauptfigur der Geschichte ist die Witwe eines Polizisten, der 1970 bei einer Routinekontrolle von einem Mitglied der Roten Armee Fraktion erschossen worden ist. Der Beamte heißt Anton Welves, und dass Matthias Koeberlin diese Rolle übernommen hat, obwohl die Figur nach dem Prolog nur noch in kurzen Rückblenden zu sehen ist, spricht nicht nur für Schoens Ausnahmestellung. Die Besetzung ist ein erster Beleg dafür, wie durchdacht dieser Film ist: Dank Koeberlin bleibt das Opfer bis zum Schluss präsent. Ganz im Gegensatz zum Täter: Der hat ein Dutzendgesicht, weshalb ihn die Witwe immer wieder in harmlosen Passanten zu erkennen glaubt.

Das Opfer ist bereit, zur Täterin zu werden

Auslöser der Handlung ist ein Journalist (Felix Eitner), der 41 Jahre nach dem Mord einen Artikel über die Witwe schreiben will. Prompt wird Erika Welves erneut mit den Schatten einer Vergangenheit konfrontiert, die sie nie verarbeitet hat, auch nicht verarbeiten konnte, weil der Täter nie verurteilt worden ist. Als Kronzeuge gegen seine Komplizen hat er nicht nur eine neue Identität, sondern sogar noch Geld bekommen.
Im Grunde gibt es nur eine Schauspielerin, die diese Rolle in ihrer ganzen Tragik spielen kann. Als habe sie dank "Unter Verdacht" ihr Image der "Schnellen Gerdi" abgestreift, reiht Senta Bergers seit zehn Jahren scheinbar mühelos eine grandiose Leistung an die andere. Ihre Verkörperung der Erika Welves ist vor allem deshalb so berührend, weil diese Frau endlich aus ihrer vierzigjährigen Katatonie erwacht und ihr selbstgewähltes Mausoleum verlässt. Das Opfer ist bereit, zur Täterin zu werden. Dank Bildgestaltung (Bernhard Keller) und Ausstattung (Tim Pannen) lösen die Szenen in der düsteren Wohnung, in der sich seit vier Jahrzehnten nichts verändert hat, regelrechte Beklemmungen aus. Leidtragende dieses inneren Exils ist Erikas Tochter (Christina Große), die im überlebensgroßen Schatten des toten Vaters fast verkümmert ist.

Schoen ("Der Grenzer und das Mädchen", "Die Mauer – Berlin ’61") erzählt das Erwachen der Erika Welves in mehreren Akten. Analog zum Konzept der Heldenreise konfrontiert er sie auf der Suche nach dem Mörder mit Menschen, die in den Fall verwickelt waren und sich fast monologisch rechtfertigen: Antons Freund und Kollege (Manfred Zapatka), der vor Gericht seine Aussage zurückziehen musste; ein früherer Bundesanwalt (Burghart Klaußner), damals Assessor, dem bei dem Kuhhandel nicht wohl war; und schließlich die Mutter (Ellen Schwiers) des Terroristen. Rein quantitativ alles überschaubare Rollen, aber so fulminant verkörpert, dass man von episodischen Hauptrollen sprechen möchte.

Die verblüffendste Figur spielt jedoch Matthias Brandt. In seiner gewohnt sparsamen und doch unerhört wirkungsvollen Art verkörpert er den verwitweten Elektriker Karl, der als einziger versteht, was in Erika nach dem Verlust der Liebes ihres Lebens vorgegangen ist. Selbstlos bietet er sich als Begleiter auf der Reise in die Vergangenheit an. Neben vielen Details, die man oft fast übersieht, zeigt spätestens diese Figur, wie klug dieser Film konzipiert ist. Schoen hat seinen vielen herausragenden Filmen einen weiteren hinzugefügt.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).