Proteste und Demos: Russlands Bürger entdecken ihre Stimme
Weniger als 50 Prozent Stimmen für die herrschende Partei und Wut auf die Regierung, die sich auf den Straßen zeigt: In Russland erwacht der Zorn eines Volkes, das endlich gehört werden möchte.
12.12.2011
Von Jenia Wagner

Bis vor wenigen Tagen war die Welt für die russischen Machthaber noch in Ordnung. Der geplante Ämtertausch zwischen Präsident Medwedew und Ministerpräsident Putin schien gesichert, die üblichen Lobeshymnen auf die kremlnahe Partei "Einiges Russland" rissen in den regierungsfreundlichen Medien nicht ab und die Parlamentswahl am 4. Dezember galt als reine Formsache, als eine lästige Lappalie auf dem Weg zur uneingeschränkten Macht der Kreml-Partei und ihrer Schöpfer.

Doch diese Rechnung hat die Regierung ohne die Menschen in Russland gemacht. Seit die zahlreichen Verstöße und Fälschungen bei der vergangenen Wahl bekannt und im Internet penibel dokumentiert wurden, gehen Zehntausende russische Bürger auf die Straßen, um gegen die Lügen zu protestieren. Zunächst fanden die Demonstrationen nur in der russischen Hauptstadt statt, am Samstag weiteten sich die Proteste dann auf ganz Russland aus. Auch die im Ausland lebende russischsprachige Community unterstützte ihre Landsleute mit zahlreichen Aktionen.

Zehntausende Protestanten im Netz und auf der Straße

Innerhalb nur weniger Tage organisierten sich die Menschen bei Facebook, 38.000 Teilnehmer zählt alleine die Moskauer Gruppe. In vielen Städten kamen weit mehr Menschen zusammen als angemeldet – in der russischen Hauptstadt waren es nach unterschiedlichen Angaben 50.000 bis 100.000 Teilnehmer. Ein globaler Protest, der die Anhänger unterschiedlichster Parteien in ihrem Zorn gegen die Lügen des Staatsapparates vereinte. Dieser plötzliche Wandel der Gesellschaft überraschte offensichtlich nicht nur die Machthaber, sondern auch die Bürger selbst – als wären sie plötzlich aus einem tiefen Schlaf erwacht.

Dabei sind Proteste in Russland keinesfalls eine Selbstverständlichkeit wie im Westen, schließlich ist die Polizei bekannt für ihr hartes Durchgreifen gegenüber den Teilnehmern. Dennoch sind viele am Samstag zum ersten Mal auf die Straße gegangen. Auch Aleksej Dovgan (50) aus Smolensk, Goldschmied von Beruf und seit den 90er Jahren Stammwähler der liberalen Partei Jabloko, protestierte in seiner Heimatstadt, um zu zeigen, dass "wir keine Angst haben und bereit sind, uns zu wehren". Die Gesellschaft habe sich verändert, sagt Aleksej, heute sei sie eine Gesellschaft freier Menschen.

"Kein leeres Geschwätz mehr!"

"Wir wollen weder Fenster einschlagen noch Kioske ausrauben – wir wollen einfach eine spürbare Entwicklung und kein leeres Geschwätz mehr." Der Sinn der Proteste besteht Aleksej zufolge vor allem darin, dass innerhalb der Gesellschaft eine Diskussion entstanden sei. "Jetzt winselt sogar die Macht, dass sie die Meinung der Opposition zur Kenntnis nehmen wird, aber wir sind keine Opposition – wir haben einfach die Korruption satt!"

Ihm pflichtet Jurij Bachnov (34) aus Moskau bei, dessen Bild bei Facebook gegenwärtig eine weiße Schleife ziert – das Symbol der neuen Bewegung: "Ich bin kein trotziger Oppositioneller, aber die Wahl am 4. Dezember war für mich wie ein Schlag ins Gesicht." Auch Jurij sagt, er habe die "Dieberei" satt. "Sie klauen alles: unser Geld und unsere Stimmen!"

Und auch wenn sich der Unmut gegen die regierende Partei Einiges Russland richtet, die als Partei der Ganoven und Diebe verschrien ist, betonen die meisten Beteiligten, dass es ihnen nicht um eine Revolution geht. "Die Menschen gehen nicht dahin, um das gegenwärtige Regime niederzureißen, sondern um eine neue Stimmenaufzählung und Freiheit für politische Gefangene zu fordern." In dieser neuen Situation schöpften die Menschen Mut und hofften, bei der Regierung endlich Gehör zu finden, sagt er.

Plötzliches Engagement

Das rasante Aufleben der Zivilgesellschaft kam für Viele überraschend. Jahrelang predigte die Staatsmacht, Protestieren sei das Los der marginalen Randgruppen. Sie schürte auch jetzt noch Angst und warnte vor dem "libyschen Szenario" und Blutvergießen. "Aber es war alles so friedlich", stellt Elena (31), eine freie Fotografin aus Moskau, erstaunt fest. "Es war ein sehr seltsames Gefühl zu sehen, dass die Menschen sich wirklich vereinigt haben: Auf einem Platz standen gemeinsam Studenten, Omas, Kommunisten und Prominente. Das war fast schon unheimlich."

Sie findet es gut, dass die Menschen im rechtlichen Rahmen agieren und nicht abstrakt gegen die Macht, sondern gegen konkrete Wahlfälschungen protestieren. "Wir wollen unsere Bürgerrechte zurück, wir sind mehr als nur Arbeitsvieh." Ein schönes Gefühl, sei das, und es erfülle sie mit Stolz: "Zumindest schäme ich mich nicht mehr für mein Land." Auch Tatjana (34) aus Moskau zeigt sich vor dem neuen Selbstbewusstsein ihrer Mitbürger beeindruckt und nennt die Proteste in Russland einen "Durchbruch". Zwar blieb sie aus Angst vor Repressalien zu Hause, verfolgte aber den ganzen Tag mit ihrer Familie die Geschehnisse auf dem Bolotnaja-Platz.

Auch skeptische Stimmen

Das Bild der neuen Bewegung wäre jedoch unvollständig ohne die Stimmen der Menschen, die den Protesten skeptisch gegenüberstehen. So erklärt Aleksandr, ein 28-jähriger IT-Ingenieur aus Ufa, dass er die Demonstrationen "nutzlos" findet, weil sie sich, allen offiziellen Beteuerungen zum Trotz, gegen die herrschende Elite richteten. Er hält jedoch den politischen Kurs der Partei "Einiges Russland" für "alternativlos" und will keine neue Perestroika oder gar einen Bürgerkrieg. Die Entscheidung vieler Menschen, auf die Straßen zu gehen, kann er jedoch nachvollziehen: "Diese Wahl war wie ein Siedepunkt. Man hat nicht das bekommen, was man erwartet hat, und im Netz wimmelt es nur so von Beweisen, dass die Wahl manipuliert war. Das ist eine beispiellose Frechheit."

Evgenija (29), eine Marketing-Spezialistin aus Murmansk, berichtet ebenfalls von zahlreichen Verstößen in ihrer Heimatstadt: "Sie haben 1.500 Rubel pro Stimme bezahlt oder Alkoholiker vor dem Eingang mit einer Flasche Wodka dazu animiert, für die 'richtige' Partei zu stimmen." Evgenija ist wütend, jedoch sind die Proteste aus ihrer Sicht keine Lösung. "Das ist alles sinnlos, weil das ein sehr einflussreiches Korruptionssystem ist. Sie haben Geld und brauchen Macht, um dieses Geld zu behalten. Putin wird unser neuer Präsident, das ist doch allen klar – von welchen freien Wahlen reden wir hier?"

Evgenija ist der Meinung, dass sich die Gemüter bald wieder beruhigen und die Menschen sich mit der Situation abfinden werden. Vielleicht steckt genau darin das Kalkül der Regierung. Pawel (32, Name geändert) arbeitet selbst in regierungsnahen Kreisen und möchte deswegen nicht namentlich zitiert werden. Er ist sicher, dass sich die Lage bald wieder beruhigen wird: "Alles wird wie früher sein. Wir müssen nur die Hauptwahl, die Präsidentschaftswahl im März, überstehen."


Jenia Wagner hat in Dortmund und Moskau Journalistik und Politikwissenschaften und in Bochum Slawistik studiert. Sie arbeitet als Online-Redakteurin für die Homepage der Fakultät Kulturwissenschaften der TU Dortmund und als Koordinatorin für Hochschulkooperationen mit zwei russischen Universitäten (Rostow am Don und Sankt Petersburg). Ihre Familie kommt aus Kireewsk (Gebiet Tula/Russische Föderation).