Es war eine tragische Liebesgeschichte, die abrupt endete. Richard Wagner lebte als Gast des deutschen Kaufmanns und Mäzens Otto Wesendonck auf einem grünen Hügel in dessen Privatpark am Rand der Stadt Zürich, von dem der "grüne Hügel" in Bayreuth seinen Namen hat. Doch er pflegte nicht nur eine enge Freundschaft mit seinem Gastgeber, sondern ebenso eine innige, wenn auch wohl platonische Beziehung zu dessen Gattin. Als seine Frau Minna Wagner davon erfuhr, kam es im Jahr 1858 zum Eklat. Der Komponist verließ den Ort überstürzt.
Franz von Assisi und der Engel mit der Wasserflasche, Gemälde von José de Ribera (1591-1652), Italien. Foto: Museo Nacional del Prado, Madrid
Heute beherbergt die Villa Wesendonck das Museum Rietberg, das eine der weltweit wichtigsten Sammlungen außereuropäischer Kunst besitzt. Dieser Tage präsentiert es Zeugnisse einer Liebesgeschichte, die in aller Regel glücklich ausgeht, nämlich derjenigen zwischen dem Menschen und Gott. "Die Sehnsucht nach dem Absoluten" lautet der Titel der international ersten kulturvergleichenden Ausstellung zum Thema Mystik, die noch bis zum 15. Januar läuft und teilweise auch online zu sehen ist.* Darin werden vierzig Mystiker aus zwei Jahrtausenden und sämtlichen Weltre(li)gionen porträtiert.
Gleich zu Beginn erläutern die Ausstellungsmacher in einem Einleitungsfilm, wie schwierig das zu fassen ist, was unter "Mystik" verstanden wird und wofür die meisten nichtchristlichen Glaubenslehren gar keinen Ausdruck kennen. Gesamthaft umschreibt der Begriff, der im 17. Jahrhundert erstmals auftaucht, Wege der direkten inneren Erfahrung des Göttlichen. Er leitet sich vom griechischen Wort "mystikos" für "geheimnisvoll" her, das seine Wurzel im Verb "myein" hat, welches soviel bedeutet wie "(die Augen) schließen".
Ekstase und Askese
Trotz dieser Problematik der Definition und der Darstellung des eigentlich Unsichtbaren lohnt sich ein Gang durch die Schau mit offenen Augen. Unter den Exponaten befinden sich neben Kunstwerken und Originaldokumenten zahlreiche multimediale Installationen, gezeigt in sechs Abteilungen, die jeweils einer Weltreligion zugeordnet und durch verschiedenfarbige Wände getrennt sind. Dabei überrascht sowohl die Vielfalt der Wege, welche die Gottsucher gefunden haben, als auch die Übereinstimmung zwischen ihren Methoden über die Kulturräume hinweg, die von strengster Askese bis zu hemmungsloser Ekstase reichen.
"Krishna wird von Radha umschlungen", Fragment eines Folios aus einer Gita-Govinda-Serie. Pigmentmalerei auf Papier, Indien um 1775. Foto: Museum Rietberg Zürich
So besangen die Liebesmystiker des christlichen Mittelalters und des persischen Islam in ähnlich klingenden Versen ihren göttlichen Gefährten, während die Meister des Zen oder Meister Eckhart (um 1260 -1328) dem Einen im Grund ihres eigenen Wesens begegneten. Andere näherten sich dem Absoluten mit analytischem Geist und abstrakten Diagrammen, wie Jacob Böhme (1575 – 1624) und die Kabbalisten, oder sogar unter Zuhilfenahme von Rauschmitteln, wie einige indische Yogis und daoistische Poeten.
Fromme Frauen
In ihrem Drang nach dem Unbedingten ließen die Mystiker offizielle Glaubenssysteme und bürgerliche Normen oft gleichermaßen hinter sich. Nicht selten gerieten sie deshalb mit der Gesellschaft und den Autoritäten ihrer Zeit in Konflikt. Massgeblich mitgeprägt wurde ihre Geschichte von religiösen Laien und Frauen. Den weiblichen Stimmen der Tradition gilt denn auch eine besondere Aufmerksamkeit im Museum Rietberg. Berühmte Beispiele gibt es genug, selbst wenn die vielzitierte Hildegard von Bingen (um 1098 – 1179) fehlt.
So trifft man etwa auf Mechthild von Magdeburg (1207 – 1282), die Gott in ihren Gedichten liebkoste, und ihre indische Seelenverwandte, die Prinzessin Mirabai (um 1500 – 1550), deren Biografie ein populärer Filmstoff in Bollywood ist, oder auf ein "stummes Mädchen" aus dem China des 10. Jahrhunderts, das bei seiner Erleuchtung direkt in den Himmel entrückt worden sein soll und dort bis heute als Herrin der Meere verehrt wird.
Hochzeit mit Gott
Mit den genannten Eigenschaften mystischer Strömungen hängt auch ihre Offenheit gegenüber Andersgläubigen zusammen, von der ihre Vertreter immer wieder zeugten. In legendärer Weise tat dies der heilige Franz von Assisi (1181/82 – 1226), dessen Bild das Plakat zur Ausstellung ziert. Er wurde inzwischen geradezu eine Symbolfigur des interreligiösen Dialogs. Seine einstigen Bemühungen, dem muslimischen Sultan Al-Kamil die Botschaft Jesu nahezubringen, waren allerdings ebenso wenig erfolgreich wie diejenigen des Kabbalisten Abraham Abulafia (1240 – 1291), der Papst Nikolaus III. zum Judentum bekehren wollte.
Christus in der Mitte. Betrachtungsbild des Niklaus von Flüe. Temperamalerei auf Leinen, Schweiz. Foto: Pfarrkirchenstiftung Sachseln
Welche befreiende und friedensstiftende Kraft in der "Sehnsucht nach dem Absoluten" liegen kann, beweist vielleicht am eindrücklichsten der Kult um den Wanderderwisch Lal Shahbaz Qalandar (gestorben 1274) in Pakistan. An seinem Grab finden alljährlich, unter ständiger terroristischer Bedrohung, frenetische Feste statt, bei denen unverschleierte Frauen ihre Haare durch die Luft werfen und Hunderttausende Pilger, die sowohl dem Islam als auch dem Hinduismus angehören, gemeinsam die "mystische Hochzeit mit Gott" feiern. Das ist ziemlich ungewöhnlich in dieser Weltgegend, in der sich die beiden Religionsgruppen ansonsten zunehmend feindselig gegenüberstehen.
Christen von morgen
Leider endet die Reihe der in Zürich Porträtierten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Eine Fortsetzung bis in die Gegenwart erschien den Kuratoren als zu problematisch angesichts der Überfülle religiöser Bewegungen, die seither entstanden sind. Tatsächlich wurde vieles von dem, was die Gottsucher früher einzeln oder im kleinen Kreis praktizierten, in der Moderne zum Massenphänomen. Dabei traten vor allem Lehren aus dem Osten einen weltweiten Siegeszug an. So kamen beispielsweise buddhistische Meditationsformen in Mode, obwohl es im christlichen Kontext mit dem Herzensgebet der Wüstenväter eine durchaus ergleichbare Übung gibt.
Eine kürzlich veröffentlichte Anthologie über Mystiker der jüngsten Vergangenheit** zeigt aber, dass auch im Westen die Linie der Tradition nie abriss und von großen Männern und Frauen weitergeführt wurde. Unter ihnen findet sich etwa, auf den ersten Blick überraschend, der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905 – 1961), dessen spirituelles Tagebuch "Zeichen am Weg" Generationen von Lesern faszinierte. Sein Todestag jährte sich soeben zum fünfzigsten Mal. Wie viele seiner geistigen Vorgänger machte er schon zu seiner Zeit wahr, was der Theologe Karl Rahner einmal in prophetischer Voraussicht formuliert haben soll: "Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein."
* Kurzeinführungen zu allen präsentierten Mystikern sowie sämtliche Multimedia-Produktionen der Ausstellung sind auf der Museums-Website www.rietberg.ch zu finden.
** Gerhard Wehr: "Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen". Lebensbilder der Mystik im 20. Jahrhundert. Gütersloher Verlagshaus 2011.
Fabian Kramer ist freier Journalist in München und Zürich.