"Stille Nacht" fehlen drei Strophen
Wenn in den Gottesdiensten an Heiligabend "Stille Nacht" gesungen wird, fehlt meistens die Hälfte. Ursprünglich hatte das populäre Weihnachtslied sechs Strophen. Die Sehnsucht nach Frieden und Völkerverständigung prägte die Zeit der Entstehung.
08.12.2011
Von Thomas Morell

"Stille Nacht, heilige Nacht" zählt zu den beliebtesten Weihnachtsliedern. In den Gottesdiensten an Heiligabend werden in der Regel drei Strophen gesungen, wie es im Evangelischen Gesangbuch steht. Dabei hatte das Lied ursprünglich sechs Strophen. Die vergessenen Verse erzählen von der Sehnsucht nach Frieden und Völkerverständigung.

Die Mäuse sollen schuld daran gewesen sein, dass das Lied Heiligabend 1818 überhaupt erstmals aufgeführt wurde. Weil die Mäuse vor lauter Hunger die Bälge der Orgel im österreichischen Oberndorf (bei Salzburg) anknabberten, musste Pfarrer Joseph Mohr vor der Heiligabend-Messe noch schnell ein Lied zur Gitarre texten, heißt es.

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Michael Neureiter, Präsident der "Stille Nacht"-Gesellschaft, hat so seine Zweifel an der "Mäuse-Legende". Er geht davon aus, dass es in Oberndorf durchaus üblich gewesen sei, für die volksnahe Krippenfeier die Gitarre einzusetzen. Mittlerweile gilt als gesichert, dass Pfarrer Mohr den Text auch bereits zwei Jahre zuvor verfasst hatte. Der Oberndorfer Organist Franz Xaver Gruber komponierte die Melodie dagegen erst kurz vor Heiligabend 1818.

Sehnsucht nach Frieden und Völkerverständigung

Zu dieser Zeit hatte Europa gerade die napoleonischen Kriege hinter sich. Vor allem die vierte Strophe von "Stille Nacht", die nicht im Gesangbuch steht, macht die Friedenssehnsucht jener Zeit deutlich: "Stille Nacht! Heilige Nacht!/ Wo sich heut alle Macht/ Väterlicher Liebe ergoß/ Und als Bruder huldvoll umschloß/ Jesus die Völker der Welt."

Ein ähnliches Lebensgefühl zeigt die fünfte Strophe, die ebenfalls heute üblicherweise nicht mehr gesungen wird: "Stille Nacht! Heilige Nacht!/ Lange schon uns bedacht,/ Als der Herr vom Grimme befreit,/ In der Väter urgrauer Zeit/ Aller Welt Schonung verhieß!" Der Orgelbaumeister Mauracher, der die Oberndorfer Orgel reparierte, brachte das Lied dann in seinen Heimatort Fügen, von wo aus es die tourende Sängerfamilie Strasser bekanntmachte. Die erste belegbare Aufführung außerhalb Österreichs fand 1832 in Leipzig statt. 1839 erklang "Stille Nacht" erstmals in New York.

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Dass das österreichische Lied auch hierzulande bekanntwurde, verdankt es dem Hamburger Diakoniegründer Johann Hinrich Wichern (1808-1881). Im Liederbuch für sein "Rauhes Haus" erscheint allerdings die Kurzfassung. Die Strophen drei, vier und fünf wurden gestrichen, und die sechste Strophe zwischen die ersten beiden platziert. Aus "Jesus! in deiner Geburt" machte Wichern "Christ, in deiner Geburt". Sein Vorschlag, aus dem "hochheiligen Paar" ein "so seliges Paar" zu machen, setzte sich allerdings ebenso wenig durch wie sein Titel "Freude am Christkind".

Drei oder sechs Strophen "Welt-Friedenslied"?

In den evangelischen Gesangbüchern fand man das Lied lange Zeit entweder im Anhang der einzelnen Landeskirchen oder unter der Rubrik "Geistliche Volkslieder". Erst in den 1990er Jahren wurde "Stille Nacht" gemeinsam mit "Tochter Zion", "O du fröhliche" und "Ihr Kinderlein kommet" offiziell in den Weihnachtsteil übernommen.

Einige Landeskirchen hätten seinerzeit gegen "Stille Nacht" votiert, andere wollten alle sechs Strophen übernehmen, erinnert sich Diakon Günter Vogelsang, damals Sekretär der Gesangbucharbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Am Ende habe sich keine Mehrheit für die sechs Strophen gefunden. Doch andere Kirchen zeigten mehr Freude an dem populären Kirchenlied. So sind im Gesangbuch der evangelisch-methodistischen Kirche alle sechs Strophen zu finden.

Bis heute wurde das Lied in mehr als 300 Sprachen und Dialekte übersetzt. Für die "Stille Nacht"-Gesellschaft, die sich für die Verbreitung aller sechs Strophen einsetzt, ist es mittlerweile fester Bestandteil der europäischen Festkultur. Es sei ein "Welt-Friedenslied", das weit über die christlichen Kirchen hinaus in andere Religionen hineinwirke. Im März 2011 wurde es in Österreich in die nationale Liste des immateriellen Unesco-Kulturerbes aufgenommen.

epd