Die Cham-Muslime fürchten den Identitätsverlust
Die Halbinsel Chrouy Changvar ist ein wichtiges spirituelles Zentrum der Cham, der muslimischen Kambodschaner, die traditionell Fischer sind. Hier treffen die beiden Lebensadern Kambodschas zusammen, der Mekong und der Tonle Sap. Das jährliche Hochwasser während der Regenzeit versorgt die Reisfelder entlang der Flüsse mit Nährstoffen und ganzjährig sind die beiden Flüsse Lieferanten der wichtigsten Proteinquelle der Kambodschaner: Fisch. Aber die Cham machen sich Sorgen um ihre religiöse und kulturelle Identität.
07.12.2011
Von Michael Lenz

Chrouy Changvar ist ein friedlicher, ein ruhiger Ort, an dem das Leben noch so gemächlich dahinfließt wie der Tonle Sap. Von dem Lärm, dem Verkehr, der Geschäftigkeit von Phnom Penh am gegenüberliegenden Ufer des Tonle Sap ist nichts zu spüren. Entlang des Ufers im Schatten der Japanischen Brücke stehen einige Bretterbuden als Verkaufsstände, sind Fischerboote sind festgemacht, steht die von Palmen und blühenden Frangipanibäumen kleine Mukdac Moschee mit ihrer goldenen Kuppel. Die staubige, unbefestigte Uferstraße davor ist noch voll von Müll und Unrat, den das schwere Hochwasser im November hinterlassen hat.

"Früher waren 85 Prozent Männer hier Fischer", erzählt Lyn Math No. "Heute gibt es bei uns nur noch zehn Fischer. Die jungen Leute arbeiten lieber auf den Märkten, als Verkäufer in Geschäften oder in den Textilfabriken. Die Fischerei ist harte Arbeit, die immer weniger Profit bringt. Manchmal hat man Glück und hat viele Fische im Netz, ein anderes Mal sind es nur wenige oder gar keine. Zudem nimmt der Fischbestand im Mekong und im Tonle Sap kontinuierlich ab."

Die Khmer-Zeit war "grotesk"

Lyn Math No war auch ein Fischer. Aber mit 63 ist ihm die Fischerei zu beschwerlich geworden. Jetzt ist er ein Hakem, das geistliche Oberhaupt seiner Gemeinde. Wenn Lyn Math und seine Freunde von ihrem Leben erzählen, kommt immer wieder das Wort "früher" vor. Früher, das war die Zeit vor den Roten Khmer, die während ihrer Herrschaft zwischen 1975 und 1979 die Kambodschaner versklavt und rund zwei Millionen Menschen umgebracht hatten. An den Cham-Muslimen, die 80 Prozent der 700.000 kambodschanischen Muslime ausmachen, haben Pol Pot und seine Gefolgsleute einen Völkermord verübt, weil sie ethnisch und religiös anders sind als die Khmer, Kambodschas dominierende ethnische Gruppe.

Lyn Math No (links) und Sman Math sind von den Roten Khmer gedemütigt und misshandelt worden. Beide haben Angehörige verloren. Foto: Michael Lenz

Die kambodschanischen Cham, der größte Zweig der gut 700.000 Muslime in Kambodscha, sind Nachfahren der Cham des Königreichs Champa, das zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert weite Teile Vietnams beherrschte. Die Islamisierung der ursprünglich hinduistischen Cham setzte um das 11. Jahrhundert herum durch arabische Kaufleute ein, die auf dem Weg nach China an der Küste Vietnams vor Anker gingen. Ein anderer, kleinerer Zweig der Muslime Kambodschas sind die Chvea, deren Vorfahren aus Java stammten.

Mit Wut in den Stimmen erinnern sich Lyn Math No, Sman Math und Mohamed an die Schreckenszeit der Roten Khmer. "Ich habe viele Tote gesehen. Manche waren an Hunger gestorben, andere von den Roten Khmer umgebracht worden," sagt Lyn Math No. Sman Math erzählt: "Wir mussten auf Reisfeldern und Baustellen Zwangsarbeit leisten. Sie haben uns für 30 Leute 500 Gramm Reis pro Tag gegeben. Das war doch grotesk. Wir mussten Reis anbauen, hatten aber nichts zu essen." Mohamed sagt: "Um uns zu erniedrigen und unseren Glauben zu verspotten wurden wir gezwungen, Schweinefleisch zu essen. Als mein Schwager sich weigerte, haben sie ihn erschlagen."

Religion als identitätsdefinierendes Merkmal

Viele der Cham auf Chrouy Changvar haben den Terror nicht überlebt. "Vor den Roten Khmer lebten hier 700 Familien. Nach unserer Rückkehr waren wir noch Hundert. Inzwischen sind 286 zugezogen. Von den alten Familien sind nur noch 30 hier. Vor allem junge Leute ziehen in die Stadt, wo sie Dank ihrer Schulausbildung gute Jobs bekommen können. Zudem gehen viele junge Muslime zum Studium in die USA, nach Australien oder in den Nahen Osten."

So Farina ist eine junge kambodschanische Muslima. Sie stammt von einer Mutter mit javanischen Wurzeln und einem zum Islam konvertierten Khmer-Vater ab. Am Documentation Center Cambodia (DC-Cam), eine Art kambodschanisches Simon-Wiesenthal-Zentrum zur Erforschung und Dokumentation der Rote-Khmer-Ära, forscht die junge Frau über das Leben, die Kultur, die Traditionen der Cham. "Die soziale und wirtschaftliche Situation der Cham hat sich den letzten Jahren verbessert. Darin unterscheiden sie sich kaum von den Khmer", sagt So Farina. "Das Problem der Muslime hier besteht eher in der Angst, ihre Identität zu verlieren."

Die Angst vor dem Identitätsverlust hat eine Ursache in der Rote-Khmer-Vergangenheit. Mit den vielen Tausend ermordeten Cham ist auch ein unermessliches Wissen über ihre Kultur, Religion, Sprache, Sitten und Gebräuche gestorben. Moderne und Globalisierung tragen heute zu der Erodierung der Cham-Kultur bei. Und auch der gesellschaftliche Druck, "Khmer" zu sein, sich den Sitten und Gebräuchen der dominierenden ethnischen Gruppe der buddhistischen Khmer anzupassen. "Wir werden nicht unterdrückt. Wir können unsere Religion und unsere Kultur in unserer Community und in den Familien leben, aber außerhalb sind wir 'Khmer'", sagt So Farina und fügt hinzu: "Dadurch wird die Religion als identitätsdefinierendes Merkmal wichtiger."

"Sie sollen uns die Wahrheit sagen"

Diesen Umstand machen sich Islamisten aus Malaysia und vor allem aus Arabien zu Nutze. "Der Einfluss des arabischen Wahabismus immer stärker. Missionare predigen den wahren Islam. Das trägt zur Verunsicherung der Cham-Identität bei. Die Missionare bringen viel Geld mit sich, mit dem sie Moscheen bauen, Gesundheitszentren einrichten, Schulen bauen."

DC-Cam beschränkt seine Arbeit nicht ur auf die Rote-Khmer-Ära und die Unterstützung des Rote-Khmer-Tribunals, dessen Arbeit ohne die gut 400.000 Dokumente aus dem Archiv von DC-Cam nicht möglich wäre. "Wir haben das Cambodian Cham Identity Project gestartet. In drei Dörfern wollen wir Kulturdenkmäler der Cham restaurieren, Bildungs- und Aufklärungszentren über die Cham-Kultur als auch über die Roten Khmer einrichten", sagt So Farina und fügt mit dem Zaunpfahl winkend hinzu: "Übrigens, wir brauchen noch Geldgeber."

Am 5. Dezember 2012 hat das Rote-Khmer-Tribunal mit der Anhörung der ersten Zeugen den lapidar "Fall 002" genannten Megaprozess gegen drei noch lebende ehemalige Mitglieder des Rote-Khmer-Regimes gestartet, die wegen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind. Unter den mehr als 3.000 Nebenklägern sind auch Lyn Math No und seine Freunde. "Sie sollen uns die Wahrheit sagen. Alle Dokumente müssen veröffentlicht werden. Wie konnten Kambodschaner andere Kambodschaner umbringen? Wir sind doch ein Volk", sagt Lyn Math No. Sman Math verbindet mit dem Tribunal auch eine Hoffnung für die Zukunft: " Das Gericht wird der jungen Generation lehren, nicht den gleichen Weg zu gehen."

Die Islamschule neben der Moschee ist aus, die Jungen und Mädchen strömen lärmend, lachend, kreischend auf den Hof. Lyn Math No ist kaum zu verstehen als er sagt: "Die Kinder lernen hier Arabisch, Englisch, die Sprache der Cham und den Koran." Er sagt auch: "Wir sprechen mit unseren Kindern und Enkeln über die Rote-Khmer-Zeit. Wir sagen ihnen: Ihr habt Glück, nach Pol Pot zu leben. Ihr habt Freiheit."


Michael Lenz ist freier Journalist in Südostasien.