"Ich bin entsetzt über diesen furchtbaren und Menschen verachtenden Anschlag", sagt Renke Brahms, Friedensbeauftragter der EKD. "Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen und denen, die an diesem Feiertag der Schiiten in Angst und Schrecken versetzt werden." Heute feiert Afghanistan das Aschura-Fest. Schiitische Muslime gedenken an diesem Tag ihres Märtyrers Hussein, eines Enkels des Propheten Mohammed. Gläubige ziehen in Prozessionen zum Gebet. Dabei peitschen und verletzten sie sich selbst mit Messern, Rasierklingen oder Stacheldraht, um ihrer Trauer über den Tod des Heiligen Ausdruck zu verleihen.
Jeder Fünfte der knapp 30 Millionen Afghanen gehört zu den Schiiten. Die Attacke fand an einem der heiligsten Tage im islamischen Kalender statt. "Bei den Anschlägen sollte man sich vor Augen halten, dass diese nicht nur an einem hohen schiitischen Feiertag geschehen, sondern dieser Feiertag bildet auch den Abschluss des für die Schiiten sehr wichtigen Monats Muharram", sagt Bente Scheller, Leiterin in Elternzeit des Afghanistan-Büros in Kabul der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie erklärt, dass über diesen ganzen Monat im Land schiitische Festivitäten stattfinden.
Wer in Vierteln unterwegs sei, in denen Schiiten lebten, erlebe quasi eine Art Dauerbeschallung mit Märtyrergesängen, die über Lautsprecher vor den Musikläden abgespielt würden, viele Schiiten hängen große Flaggen aus ihren Autofenstern. Im Monat Muharram, der dem Aschura-Fest vorausgeht, treten die Schiiten sehr selbstbewusst in der Öffentlichkeit auf. "Das ist etwas, das viele Nicht-Schiiten in Rage bringt. Sie haben das Gefühl, dass das neue demonstrierte Selbstbewusstsein, das in den letzten Jahren immer stärker zur Schau getragen worden ist, dafür steht, dass ihre eigenen Interessen marginalisiert werden. Davor haben viele Afghanen Angst."
Eine afghanische Demokratie muss alle mitnehmen
Die Anschlagserie einen Tag nach der Bonner Afghanistan-Konferenz schürt die Angst vor einer Eskalation religiöser Gewalt. Der Angriff in Kabul galt dem Abu-Fasl-Schrein in der Altstadt, wo sich Hunderte Schiiten anlässlich des Aschura-Festes versammelt hatten. Dabei wurden mindestens 50 Menschen mit in den Tod gerissen. Mehr als 100 seien durch die Explosion verletzt worden. Fast zeitgleich starben in der nordafghanischen Stadt Masar-i-Scharif vier Menschen bei einem weiteren Anschlag in der Nähe einer schiitischen Moschee.
Einen Tag zuvor hatten 1.000 Delegierte aus 85 Ländern in Bonn über die Zukunft Afghanistans beratschlagt. Wie sinnvoll aber ist diese Unterstützung, wenn sie doch im blutigen Rauch eines interreligiösen Konflikts aufzugehen scheint? Zwischen den religiösen Gruppen in Afghanistan habe es zwar immer Konflikte gegeben, dieser Anschlag aber stelle seines Wissens ein Extrem dar, sagt Brahms. "Insofern würde ich nicht sagen, dass die Stabilität des Landes im Rauch eines religiösen Konflikts aufgeht. Eher befürchte ich, dass die religiöse Situation missbraucht wird, um das Land zu destabilisieren."
Umso wichtiger sei für ihn die Bereitschaft und Verpflichtung der in Bonn versammelten Staaten, den Aussöhnungsprozess in Afghanistan zu unterstützen. Er betont: "Es muss allerdings ein afghanischer Prozess sein."
Sicherheit jetzt bedeutet nicht Sicherheit morgen
Den Anschlag könne man auch als Zeichen sehen, sich mehr Gedanken darüber machen zu müssen, wie tatsächliche Stabilität in Afghanistan gewährleistet werden könne, meint Bente Scheller. Sie schränkt ein: "Bei interreligiösen oder ethischen Konflikten können wir ganz wenig dazu beitragen, von außen diese zu mildern." Trotzdem müsse man aber selbstkritisch das eigene Engagement unter dem Blickwinkel betrachten, was man selbst dazu beitragen habe, die Situation in Afghanistan zu verschärfen.
Gerade die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen hängt von der Machtfrage ab. Ein Schlüssel könne sein, diese Machtfrage so zu beantworten, dass niemand sich zu kurz gekommen wähnt. Wer immer das Gefühl habe, auf friedlichem oder demokratischem Wege nicht an Politik oder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, der neige vielleicht eher dazu, sich andere Wege zu suchen.
Demokratische Strukturen würden bedeuten, dass jeder Afghane sich seinen Wünschen gemäß selbst einbringen könne. Scheller schlussfolgert: "Demokratie ist ein wesentlicher Garant für langfristige Stabilität. Wenn wir jetzt aber nur auf Sicherheit setzen und versuchen, all diese Aspekte auszublenden, um uns eben einen schnellen Abzug zu sichern, heißt es nicht, dass wir damit auch nachhaltig die Sicherheit soweit garantieren, dass es nachhaltig stabil bleiben wird. Im Gegenteil, das wäre ein Pyrrhussieg."
Der Wert einer Demokratie liegt ihrer Ansicht darin, dass man Strukturen schaffe, die jedem klar machten, dass wer bei diesen Wahlen nicht gewinne bei den nächsten Wahlen eine neue Chance erhalte. Die Gewählten wiederum müssten sich beweisen und was dafür tun, wollten sie wieder gewählt werden. Macht würde demnach nach Leistung, statt nach ethnischer Verteilung, erteilt werden.
Brahms: "Religiöse Minderheiten müssen geschützt werden"
Die brutalen Anschläge in Afghanistan zeigen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan noch lange nicht stabil ist. "Für die Zukunft Afghanistans ist es allerdings entscheidend, dass das Land die Verantwortung auch für die Sicherheit in die eigene Hand nehmen kann", sagt Brahms. Auch für ihn ist klar: "Es gibt keine militärische Sicherheit von außen. Dabei muss auch im Hinblick auf die Sicherheit die Demokratisierung weiter entwickelt werden. Es sind notwendigerweise parallele Prozesse. Unterstützung muss dabei vor allem im zivilen Aufbau der staatlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Strukturen bestehen."
Wie tief der Graben zwischen den religiösen Gruppen in Afghanistan tatsächlich ist, ist für den Friedensbeauftragten der EKD schwierig umfassend zu beurteilen. "Wenn ich es richtig weiß, sind die Taliban mehrheitlich Sunniten. Die Schiiten haben auch unter den Taliban gelitten. Zu dem Schutz der Menschenrechte gehört deshalb für eine zukünftige afghanische Gesellschaft auch der Schutz der religiösen Minderheiten."
Ist die Entscheidung also richtig, die Bundeswehr 2014 aus Afghanistan abzuziehen? Bente Scheller erlebt die Auswirkungen des Bundeswehreinsatzes: "Da haben wir immer sehr positive Rückmeldungen bekommen. Da wurde die Bundeswehr als ein Garant der Stabilität gesehen. Trotzdem: Je mehr Truppen nach Afghanistan gekommen sind, umso unsicherer ist es auch in weiten Landesteilen geworden. Es ist ja nicht so, dass die Dinge sich nicht nur langsam verbessern, sondern, dass wir seit 2006 auch viele Rückschritte im Sicherheitsbereich gesehen haben. Da haben die Truppen nicht viel ausrichten können. Es hängt nicht nur an der Präsenz oder Nichtpräsenz der Truppen, was da im Land passiert."
Bonner Konferenz nur ein Meilenstein auf dem Weg
Die Teilnehmerstaaten der Konferenz in Bonn verständigten sich Anfang der Woche in einer Abschlusserklärung darauf, Afghanistan in einem "Jahrzehnt der Transformation" bis 2024 bei politischen Reformen, Friedensverhandlungen und dem zivilen Aufbau zu unterstützen. Im Mittelpunkt standen der Friedensprozess und politische Reformen in Afghanistan. Konkrete Finanzzusagen wurden dabei nicht gemacht.
Was die Bonner Afghanistan-Konferenz ergeben hat, findet Scheller nicht unerwartet: "Von einer so kurzen Konferenz, auf der so viele Leute zu Wort kommen sollen, ist ja nicht zu erwarten, dass an diesem Tag sehr viel geleistet wird. Wichtig ist, dass Zusagen getroffen werden, inwieweit auch die anderen Staaten Afghanistan nach 2014 unterstützen wollen. Bei diesen Zusagen gilt dann genau hinzugucken, was daraus wird. Oft werde zu viel versprochen. Diese Konferenz kann nur ein weiter Meilenstein auf einer Strecke der Konferenzen gewesen sein."
Markus Bechtold ist Redakteur bei evangelisch.de.