Das Haus ist grau und wirkt von außen wie eine Festung aus Beton. Wer mit der Straßenbahn zum HIV-Center in Frankfurt am Main fährt, blickt an der Haltestelle auf die aktuelle Aids-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und sieht auf einem Plakat einen jungen Mann mit der Frage "HIV-positiv und Freund sein?". Eisig weht der Wind über das Klinikgelände der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Laub raschelt unter den Füßen. Wer draußen ist, sucht Wärme.
1982 wurde in Deutschland zum ersten Mal die Diagnose "Aids" in Frankfurt gestellt. Kurze Zeit später, zu Beginn der HIV-Epidemie in Deutschland, wurde der Grundstein für das heutige HIV-Center im "Haus 68" gelegt, der ehemaligen Infektions- und Studienambulanz auf dem Klinikgelände südlich des Mains. In den Anfangsjahren war die Diagnose HIV-positiv noch gleichbedeutend mit Leid und Tod und der kam schnell. Zusätzlich raubte die Angst vor der Krankheit, von der man nahezu nichts wusste, vielen Patienten die Luft zum Atmen. Hinzu kam die Angst, von den Nichtinfizierten geächtet zu werden und allein zu bleiben.
Heute, im Jahr 2011, betreut die evangelische Klinikseelsorgerin Jutta Reimers-Gruhn dort Patienten mit HIV. Das HIV-Center (Bild links, Foto: Markus Bechtold) gehört mit sechs Ärzten zu den weltweit führenden HIV-Behandlungszentren mit über 3.000 Patienten im Jahr. Die Pfarrerin bietet seelsorgerische Begleitung an, sowohl für Patienten als auch für ihre Angehörigen. Denn jede Krankheit hat ihre eigenen Schwierigkeiten und Fragestellungen. Zusätzlich betreut sie in ökumenischer Zusammenarbeit ein Patientencafé, das von 15 ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt wird. Vor über 23 Jahren wurde es ins Leben gerufen.
"Diese Arbeit entstand damals, um der Ausgrenzung und dem sozialen Tod der Patienten entgegen zu wirken", erzählt die 45-jährige Reimers-Gruhn. Sie selbst arbeitet seit 2006 dort. Obwohl mit den Jahren die medizinische Versorgung besser geworden und die Lebenserwartung der Patienten wesentlich gestiegen ist, existiere weiterhin die Angst vor der Ausgrenzung. Für viele Betroffene ist das Zusammentreffen im Patientencafé ein Lichtblick. "Hier dürfen sie so sein, wie sie sind, und werden mit ihrer Krankheit angenommen", sagt Reimers-Gruhn. "Ich möchte für die Menschen in Krisensituationen da sein."
Seelsorge im Wandel: Von der Sterbebegleitung zur Betreuung
Das Patientencafé ist erst jüngst von der Station im Erdgeschoss in den ersten Stock in die Lounge des HIV-Centers gezogen, dort ist auch die Ambulanz. Da kommt jeder vorbei, der in die Ambulanz geht, der Medikamente abholt, die lebenswichtig sind, oder der einfach mal vorbeischauen will. Wer rein will, muss klingeln. Schnell wird ihm geöffnet. "Früher war das Haus im Prinzip ein Hospiz. Die Menschen sind, nachdem ihre Krankheit entdeckt wurde, innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre verstorben. Viele Patienten lagen bettlägerig auf der Station und wurden bis zu ihrem Tod betreut", erzählt Reimers-Gruhn. Das habe sich seit dem Durchbruch in der Forschung, einer besseren Medikamentierung und einer damit verbundenen gestiegenen Lebenserwartung der Patienten, geändert.
Damit hat sich auch die Arbeit der Seelsorge gewandelt. "Früher wurden die Patienten verrentet und bekamen Sterbebegleitung. Heute werden sie zwar mit der Diagnose HIV-positiv, aber dennoch mit der Chance auf ein gutes Leben entlassen", sagt die Seelsorgerin. "Die Patienten müssen ihr Leben ändern, mit ihrer Krankheit in der Arbeitswelt zu Recht kommen und vor allem haben sie eine Perspektive." In den Anfangsjahren waren die Solidarität und das Miteinander unter den Betroffenen groß. "Inzwischen ist das nicht mehr so der Fall, weil viele sich mit ihrer Krankheit aus der Öffentlichkeit zurückziehen, auch aus Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung", erzählt die Pfarrerin. Mit ihrer Arbeit als Seelsorgerin will sie ihnen helfen, wieder eine Balance für sich zu finden, ihnen Lebensperspektiven aufzeigen: "Wer die Diagnose HIV-positiv erhält, muss verkraften, dass er eine Krankheit hat, die zum Tode führen kann. Aber eben nicht von jetzt auf gleich, sondern perspektivisch betrachtet."
Während in den 80er Jahren Aids eine Krankheit von jungen schwulen Männern war, hat sich das Alterspektrum im "Haus 68" mittlerweile stark gewandelt. Seit 1998 kommen ins "Haus 68" zunehmend heterosexuelle Männer und Frauen sowie Migranten und ältere Menschen. Aids ist in der Gesellschaft angekommen. Viele wollten ihre Diagnose oft nicht wahrhaben, verdrängten sie nach dem Motto: "Wenn man die Krankheit nicht wahrnimmt, dann hat man sie auch nicht". Wer HIV-positiv ist, hat noch lange kein Aids. Durch eine Behandlung lasse sich der Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs verzögern, klärt die Seelsorgerin auf.
Seit Aids eine chronische Krankheit ist, gehen weniger an die Öffentlichkeit
Heute suchen Jugendliche bis über 70-Jährige das Gespräch mit der Seelsorgerin. Vor allem aber spricht Jutta Reimers-Gruhn die Menschen im Patientencafé oder im Krankenzimmer an. Sie nennt das "aufsuchende Seelsorge". Wer sich nicht gut fühlt oder wer depressiv ist, auf den geht sie zu. Oft sind es auch Zufallsbegegnungen im Haus. "Ich spüre, dass ich den Menschen Kraft durch die Gespräche gebe. Aber sie geben mir auch zum Teil Kraft. Es ist manchmal faszinierend, wie viel Energie jemand ausstrahlt, obwohl es ihm eigentlich schlecht geht. Schön ist es, zu sehen, wie die Patienten ihr Leben in den Griff kriegen."
Seelsorge heißt für die 45-Jährige Zuhören, Dasein und Zeit haben. Wer will, kann zusammen mit ihr beten. "Seit Aids eine chronische Krankheit ist, outen sich weniger Menschen mit HIV und Aids, gehen nicht offen mit ihrer Erkrankung um", sagt Reimers-Gruhn. "Die Krankheit wird verdeckt und privatisiert. Wer zu uns ins Haus kommt, will oft nicht gerne vor der Tür gesehen werden, aus Angst, ihr Umfeld bekommt das mit." Viele Patienten würden ihren Angehörigen zuerst erzählen, an Krebs erkrankt zu sein. Zu schnell sei auch heute noch das Urteil der anderen, selbst an der Erkrankung Schuld zu sein. Diese Last will Reimers-Gruhn den Menschen nehmen. Sie selbst rät zur Offenheit. Letztendlich müsse jeder aber für sich selbst entscheiden, wie er mit seiner Diagnose umgeht, ob er die Energie hat, offen dazu zu stehen. "Ich kann nur versuchen, die Menschen auf ihrem Weg zu unterstützen".
Die Pfarrerin beobachtet, dass Menschen, die zuvor nichts mit der Kirche zu tun hatten oder sich abgewandt hatten, über ihre Krankheit einen Zugang zur Religion finden oder alte Vorurteile abbauen. "Wer in einer Lebenskrise steckt, guckt sich um, welche Hilfen es gibt." Kraft für ihre Arbeit zieht sie aus ihrem Glauben und aus der Begegnung mit den Menschen, ihren Geschichten und Biografien, ihrer Offenheit und ihrer Stärke, das Leben zu meistern, aus einem Austausch im Gespräch. Kraft zieht sie aus ihrer Dankbarkeit dafür, dass es ihr gut geht. "Wenn ich morgens auf 180 bin und mich über die Welt ärgere, dann denke ich abends, wenn ich nach Hause komme: Was willst du eigentlich? Du kannst essen, du kannst gehen, du bist gesund, deine Lieben sind gesund."
75-jährige "Laienseelsorgerin" Leo: "Am Anfang wurde viel gestorben"
Die gute Seele im "Haus 68" heißt Inge Leonhardt, liebevoll "Leo" genannt. Sie ist 75 Jahre alt und arbeitet seit 24 Jahren ehrenamtlich im Frankfurter Patientencafé. Freitags serviert "Leo" Kaffee und Kuchen, mittwochs kocht sie Suppe, vor allem aber hat sie für alle ein offenes Ohr.
Der Weihnachts-, Schmand-Mandel- und Käse-Kirschkuchen ist aufgetischt, Kaffee dampft aus der Tasse. Sie ist seit der ersten Stunde mit dabei und bezeichnet sich selbst als "Laienseelsorgerin". Von 15 bis 17 Uhr ist das Café an diesem Freitag offen, die acht Stühle sind schnell besetzt. "Heute kein Küsschen, ich bin noch erkältet", sagt ein Mann, der hereinkommt. Er nimmt Platz, probiert den Weihnachtskuchen, lacht. Man tauscht sich aus, herzt sich.
Aufmerksam wurde Inge Leonhardt (Bild links, Foto: Markus Bechtold) in den 1980er Jahren auf das "Haus 68" über eine halbseitige Zeitungsanzeige, ein junger Mann sitzt auf einer Bank und sagt: "Ich habe Aids. Lass mich nicht allein". Damals habe sie selbst einen schweren Schicksalsschlag gerade abgewendet und wollte daher anderen etwas Gutes tun. Mit einem Blumenstrauß in der Hand ist sie damals im "Haus 68" angetreten und hatte den erstbesten Pfleger gefragt, ob jemand auf der Station sei, der keinen Besuch bekomme. "Fangen Sie vorne an und hören Sie hinten auf", war die Antwort. Aids wurde geächtet. Das ist 26 Jahre her.
Heute gibt es mehr Lebensqualität für HIV-Infizierte
Dann war sie zwei Jahre in Afrika und als sie wieder zurückkam, lag ein Freund von ihr auf der Station "bis zu seinem Ende." Für ihn war sie täglich dort, Berührungsängste hatte sie nie. Die Anfangszeit sei sehr traurig gewesen: "Es wurde viel gestorben. Zu meinem eigenen Erstaunen habe ich es irgendwie geschafft, damit umzugehen. Ich konnte mit trauern, auch mit der Familie, die hinterblieben ist. Vielleicht hat mir der Gedanke Kraft gegeben: du musst jetzt die Familie ein bisschen auffangen und trösten. Da kannst du jetzt selbst nicht hier im Eck liegen und weinen. Irgendwie ging es."
Die lebensfrohe Frau erzählt: "Wir hatten damals eine Klinikseelsorgerin, die katholische Schwester Helga. Sie war super. Mit feinem Humor und Einfühlungsvermögen und Mitgefühl - ich sage bewusst nicht Mitleid. Da habe ich Augen und Ohren aufgesperrt und viel gelernt." Sie selbst lebt nach dem Motto: "Ich bin der Erfolg meiner gestrigen Taten und werde morgen sein, was ich heute tue." Selbstverantwortung ist ihr wichtig. Der Dalai Lama hatte ihr einmal in Indien gesagt: "Wenn Du ein Herz voll Liebe und Mitgefühl hast, ist es übergenug." Das versucht sie, an die Patienten weiterzugeben.
Heute gibt es wirksame Medikamente, mehr Lebensqualität. Mit den Tabletten kommen aber auch die Nebenwirkungen. Im Patientencafé sitzen drei Männer und erzählen ihre Geschichte. Der 48-jährige Norbert sitzt mit am Tisch und erzählt: "Ich bin seit 28 Jahren mit HIV infiziert und wie sie sehen, lebe ich". Er litt unter einer Psychose. Die ist jetzt wieder ausgeheilt. Die Krankheit ist im Patientencafé kein Tabu. Das schätzt er sehr, weil dies auch Raum schaffe, sich einmal über etwas anderes zu unterhalten. Mario ist 41 Jahre alt. Auch er kommt regelmäßig ins Café. 1998 erfuhr er von seiner HIV-Infektion. Das war für ihn ein Schock. Sein Leben hat sich verändert: Er ist extra in die Nähe der Klinik gezogen. Sein Glaube an Gott gibt ihm Kraft. Auch für Ulrich ist der Glaube eine Stütze. Der 64-Jährige weiß seit 25 Jahren, dass er infiziert ist. Anfangs hat er die Krankheit zehn Jahre verdrängt. "Dann war nichts mehr zu verdrängen. Mit dem Notarzt bin ich in das Krankenhaus gekommen. Es war kurz vor knapp." Mit den Medikamenten lebt er heute den Umständen entsprechend gut.
"Nach der Diagnose ist mancher dem Selbstmord näher als dem Leben"
Inge Leonhardt ermuntert die Patienten, sich dem Leben, ihrer Familie, ihren Freunden wieder zuzuwenden.In einigen Fällen hat das geklappt. Einige hat sie ermuntern können, sich ihrer Familie wieder zuzuwenden. Etliche hunderte Begegnungen hatte sie in den vergangenen Jahren, Freundschaften sind daraus erwachsen. Im Patientencafé kommen viele vorbei, auch "Ex-Patienten". Die ehrenamtliche Arbeit ist Inge Leonhardt sehr wichtig: "Wenn einer sagt: 'Unser Leoche kommt, die Sonne geht auf', dann geht in mir auch die Sonne auf."
Oft fange die Krankheit mit einer Art typischer Lungenentzündung an. Dann werde zumeist mit Antibiotika behandelt, sagt Leo, bis einer auf die Idee käme einen HIV-Test zu machen. "Da ist jemand, der nicht wusste, dass er HIV hat und bekommt das Ergebnis gesagt: Du kommst jetzt nach Frankfurt in die Spezialabteilung HIV. Für den bricht die Welt zusammen." Da sei so mancher dem Selbstmord näher als dem Leben. "Das nehme ich mir dann mit als Aufgabe, den wieder, soweit ich kann, zurück ins Leben zu holen. Aufzufangen und Zuhören."Die gute Seele Leo erinnert sich an eine Begebenheit vor vielen Jahren. "Wir hatten einen sehr lieben Patienten. Anfangs saß er noch im Rollstuhl, konnte sich mitteilen, dann wurde er zusehends gelähmter. Zum Schluss konnte er nicht mehr reden, nur noch mit dem Auge blinkern, einmal hieß: ja, zweimal: nein. Eines Tages bin ich zu ihm ins Zimmer gekommen, umarme ihn, da höre ich hinter mir eine Stimme "Den fassen Sie an?" Ich drehe mich um, steht da eine Frau im Kittel, mit Maske, Häubchen, Handschuhen: seine Mutter. 'Der braucht nicht zu denken, dass er bei uns beerdigt wird, wenn er jetzt abkratzt.' So war das damals. Das ist zum Glück schon lange her."