Heimkinder: "Es fehlt oft an Gespür für das große Unrecht"
Von Januar 2012 an sollen frühere Heimkinder finanzielle Hilfen beantragen können. Die Bundesländer richten Anlaufstellen ein. Dafür wollen sie sich aus dem Heimkinder-Fonds bedienen - das sorgt für Unmut.
29.11.2011
Von Bettina Markmeyer

Wolfgang Bahr und Michael-Peter Schiltsky sind ehemalige Heimkinder. Gegenwärtig begleiten sie die Einrichtung des Heimkinder-Fonds, in den Bund, Länder und Kirchen 120 Millionen Euro einzahlen wollen. Von dem Geld sollen in den kommenden fünf Jahren Hilfen und Renten-Nachzahlungen für frühere Heimkinder finanziert werden. Als erste greifen nun aber die Bundesländer in die Fonds-Kasse - und das ärgert Bahr, Schiltsky und viele ihrer Leidensgenossen.

Der Heimkinder-Fonds ist Ende 2010 vom Runden Tisch Heimerziehung unter der Grünen-Politikerin Antje Vollmer beschlossen worden. 20 Millionen Euro sind für Rentenachzahlungen vorgesehen, 100 Millionen für individuelle Hilfen. 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1945 und 1975 in der Bundesrepublik in Heimen, die sich überwiegend in kirchlicher Hand befanden. Viele erlitten körperliche, seelische und sexuelle Gewalt. Jugendliche mussten hart arbeiten, Lohn und Rentenzahlungen wurden ihnen vorenthalten.

Viele Heimkinder kämpfen noch heute mit den Folgen der Heimerziehung. Genaue Zahlen gibt es nicht. Bis Ende 2014 können die Betroffenen nun einen Antrag auf Hilfszahlungen stellen. Im Mai hatten nach den Kirchen und dem Bund auch die elf westdeutschen Länder ihre Beteiligung an dem Heimkinder-Fonds beschlossen. Die Familien- und Jugendminister hielten zugleich aber fest, für die regionalen Anlaufstellen bis zu zwölf Millionen Euro aus dem Heimkinder-Fonds entnehmen zu wollen. Ganz wohl war ihnen dabei offenbar nicht, denn in Klammern fügten sie hinzu: "Mehr ist aber auch nicht vertretbar."

"Wenn das Geld zu Ende geht, muss man nachlegen"

Baden-Württemberg hat schon mal ausgerechnet, dass es "die im Zusammenhang mit der einzurichtenden Anlauf- und Beratungsstelle entstehenden Kosten von bis zu 1,8 Millionen Euro im Wege der (nachträglichen) Erstattung geltend machen" kann - und will. Bisher ist nicht bekannt, dass ein anderes Bundesland auf die Erstattung verzichten und die Kosten selbst finanzieren will. Empört hatten sich Schiltsky, Bahr und ihre Mitstreiterin Erika Tkocz vom Arbeitskreis Fondsumsetzung Heimerziehung an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), gewandt: "Wir können nicht glauben, dass das mit Ihrer Zustimmung geschieht", schrieben sie, als sie im Oktober von den Absichten der Länder erfuhren.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Marlene Rupprecht, die die Rehabilitation der Heimkinder und den Fonds mit auf den Weg gebracht hat, räumt zwar ein, dass die Vorgehensweise der Länder aus Sicht der ehemaligen Heimkinder "eine symbolische Wirkung" entfalte, sieht die Folgen aber nicht als dramatisch an: "Wenn das Geld tatsächlich zu Ende geht, muss man nachlegen", sagt sie. Den Heimkindern werde das Geld nicht weggenommen. Es gehe in Dienstleistungen für die Betroffenen, nicht allein in die Verwaltung. Zudem wisse niemand, wie viele ehemalige Heimkinder tatsächlich Hilfen beantragen werden.

Hans-Siegfried Wiegand, der als Heimkinder-Vertreter am Runden Tisch den Fonds mitbeschlossen hat, meint hingegen, die Länder wichen von den Beschlüssen ab. Das mühsam aufgebaute Vertrauen drohe wieder verloren zu gehen. Wiegand weiß indes, dass die Betroffenen nur auf guten Willen setzen können: Da der Bund, die Länder und die Kirchen als Geldgeber "die Entscheidungsmacht" hätten, gehe er davon aus, dass die Geldgeber die Lösungsvorschläge, die sie selbst mitentwickelt haben, "respektvoll, klug, umsichtig und einfühlsam verwirklichen".

Das Gefühl, willkommen zu sein

Wiegands Mitstreiterin am Runden Tisch, Sonja Djurovic, meint, "es liegen Welten zwischen den ehemaligen Heimkindern und den Entscheidungsträgern". Keiner könne sich ein Bild machen, wie es den Betroffenen wirklich geht: "Es fehlt oft an Gespür für das große Unrecht", bilanziert Djurovic. Jenen, die nun Hilfen beantragen, müsse das Gefühl vermittelt werden, willkommen zu sein. Andernfalls "wäre alles für die Katz".

Als erste appellierten die katholischen Bischöfe an die Länder, für die Beratungsstellen selbst aufzukommen, statt den Hilfs-Fonds zu schmälern. Zehn Prozent der Fondsmittel für die regionalen Anlaufstellen einzufordern, finde nicht die Zustimmung der Deutschen Bischofskonferenz, ließ deren Sekretär, Pater Hans Langendörfer, Heimkinder-Vertreter wissen. Allerdings liege die Entscheidung bei den Ländern selbst. Scheitern lassen wollen die Kirchen den Fonds und die Einrichtung der Anlaufstellen allerdings nicht.

Auch die Evangelische Kirche ist nicht glücklich mit dem Vorgehen der Länder. Der Präsident des EKD-Kirchenamts in Hannover, Hans Ulrich Anke, sagte auf Nachfrage, der Anteil an Verwaltungskosten müsse "unbedingt so gering wie nur irgend möglich gehalten werden." Anke weiter: "Wir haben am Runden Tisch Heimerziehung immer wieder darauf gedrängt, dass dieses Geld tatsächlich den Betroffenen zugutekommen muss."

epd