Grünes Licht für Stuttgart 21: Kretschmann lenkt ein
Bahn frei für Stuttgart 21 statt eines Kretschmann-Wunders: Das heftig umkämpfte Milliarden-Verkehrsprojekt Stuttgart 21 kommt. Der grüne Ministerpräsident muss nun ein CDU-Vorhaben umsetzen. Am Ende waren es zu wenig "Wutbürger".
28.11.2011
Von Henning Otte

Baden-Württemberg hat den Weg für Stuttgart 21 endgültig frei gemacht. Die Gegner des Milliarden-Bahnprojekts scheiterten bei der Volksabstimmung am Sonntag überraschend deutlich. Die Mehrheit von 58,8 Prozent stimmte gegen einen Ausstieg des Landes, wie Wahlleiterin Christiane Friedrich am Abend mitteilte.

41,2 Prozent waren für eine Kündigung der Finanzierungsverträge mit der Bahn. Die Wahlbeteiligung lag bei 48,3 Prozent. Damit können der hart umkämpfte Bau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs und dessen Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm fortsetzt werden. Die S21-Befürworter jubelten am Sonntagabend bei ihrer Party und skandierten: "Weiterbauen!" Die S21-Kritiker verfehlten auch das Quorum von 33 Prozent der Wahlberechtigten deutlich.

Sogar in der Landeshauptstadt behielten die Befürworter von S21 die Oberhand. Knapp 53 Prozent stimmten gegen einen Ausstieg, gut 47 Prozent dafür. In Baden gab es in den großen Städten wie Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und Heidelberg eine Mehrheit für die Projektkritiker. Allerdings wurde auch dort das Quorum verfehlt.

Stuttgart 21 war bundesweit zum Symbol für die mangelnde Beteiligung von Bürgern an Großprojekten geworden. Der grüne Ministerpräsident und S21-Gegner Winfried Kretschmann muss nun ein Projekt umsetzen, das von seinen CDU-Vorgängern vorangetrieben worden war. Der 63-Jährige gestand ein: "Das Volk hat gesprochen, und das akzeptiere ich, auch wenn es nicht meinem Wunsch entspricht."

Kretschmann will Bahn-Erklärung zu Kosten

Nach der Schlappe der Stuttgart-21-Gegner bei der Volksabstimmung beraten die grün-rote Koalition und die Bahn an diesem Montag über Konsequenzen. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann will das Milliarden-Bahnprojekt trotz großer Vorbehalte nun durchsetzen helfen. Kretschmann und Vize-Regierungschef Nils Schmid (SPD) betonten, das Land werde nicht mehr als 930 Millionen Euro zu dem Bahnprojekt beisteuern. "Mehr werden wir nicht bezahlen", mahnte Kretschmann an die Adresse der Bahn. Die Grünen befürchten, dass die bisher auf 4,1 Milliarden Euro bezifferten Kosten aus dem Ruder laufen.

Am späten Sonntagabend forderte Kretschmann die Bahn auf, zu erklären, ob sie die Zusatzkosten übernimmt, wenn Stuttgart 21 teurer werden sollte. "Der Kostendeckel bleibt. Wir werden nicht mehr bezahlen als unser Anteil an den 4,5 Milliarden Euro ist." Er wolle sich nicht von der Bahn erpressen lassen.

Der Konzern reagierte gelassen. Falls Mehrkosten entstünden, werde man sich verständigen, sagte Projektsprecher Wolfgang Dietrich der Nachrichtenagentur dpa. "Alle wollen das Projekt: die Bürger, die Parteien, die Bahn - da wird man eine Lösung finden." Dietrich fügte hinzu: "Auch das Land muss seinen Beitrag leisten, wenn mehr Kosten kommen sollten." Er zeigte sich zuversichtlich, "dass der erste Zug im November 2019 in den Tiefbahnhof rollt". Der Bahn-Vorstand will an diesem Montag in Berlin über das weitere Vorgehen informieren. Am Abend kommen die S21-Gegner zur "Montagsdemonstration" zusammen. Er rechnet mit weiteren Protesten: "Die Leute müssen sich aber klar sein, dass sie nicht gegen die Bahn protestieren, sondern gegen die Mehrheit der Bevölkerung."

Stuttgart-21-Gegner Hermann lehnt Rücktritt ab

Der eingefleischte S21-Gegner und Verkehrsminister Winfried Hermann sieht sich Rücktrittsforderungen gegenüber. Kretschmann versuchte noch am Abend, eine solche Diskussion im Keim zu ersticken. "Ich wüsste nicht, warum er zurücktreten soll. Er hat einen harten Job gehabt, bisher den härtesten in der Regierung." Hermann sei eine ganz starke Persönlichkeit, er stehe voll hinter ihm.

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel sieht für Hermann keine andere Lösung als den Rückzug. "Wenn Herr Hermann noch etwas demokratisches Ethos hätte, müsste er zurücktreten", sagte der Professor an der Konstanzer Universität der dpa. Da sich Hermann als S21-Gegner profiliert habe, sei es eine Frage des politischen Anstandes, dass er den Hut nimmt.

Dass das Ergebnis des Volksentscheids dem Image der Grünen schadet, denkt Seibel nicht. "Die Grünen in Baden-Württemberg werden geprägt durch Winfried Kretschmann. Kretschmann versucht jetzt klugerweise staatsmännisch aus dem Ergebnis das Beste zu machen." Der Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling sieht in Kretschmann sogar einen der Gewinner der Volksabstimmung. "Er hat sich als guter Demokrat profiliert", sagte Wehling der dpa.

In Sachen Winfried Hermann ist Wehling anderer Meinung als Professor Seibel. "Er hat blitzschnell umgedacht und betont, dass er das Votum der Bürger akzeptieren werde. Viele, die ihn vorher für einen verbohrten Betonkopf hielten, haben ihn plötzlich ganz anders erlebt." Trotzdem sei der Verkehrsminister die größte Schwachstelle der Regierung. "Da kann die Opposition weiter bohren."

Verkehrsminister Ramsauer begrüßt Votum für Stuttgart 21

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) äußerte sich erfreut: "Das Ergebnis ist ein wichtiges Signal für den Wirtschaftsstandort Deutschland." Auch die Opposition von CDU und FDP im Land war erleichtert. "Mir ist ein Felsbrocken vom Herzen gefallen", sagte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. CDU-Landeschef Thomas Strobl sagte: "Jetzt ist Ministerpräsident Kretschmann gefordert: Er muss den verbohrten S21-Gegnern, die weiteren Widerstand angekündigt haben, klar machen, wie Demokratie funktioniert."

Der prominente S21-Gegner und Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) sagte: "Der politische Widerstand gegen das Projekt ist beendet." Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) freute sich über das Resultat: "Alles andere hätte zu chaotischen Situationen geführt." Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt mahnte, die Proteste müssten jetzt aufhören.

Unterdessen akzeptierten nicht alle S21-Gegner das Ergebnis des Referendums. "Wir stellen unsere Aktivitäten erst ein, wenn Stuttgart 21 beendet ist", sagte Matthias von Herrmann, Sprecher der "Parkschützer". Die Landesvorsitzende des Umweltverbands BUND, Brigitte Dahlbender sagte, nach der Montagsdemonstration seien vorerst keine weiteren Kundgebungen geplant. Erst müsse beraten werden, wie es weitergehe. Das Ergebnis werde sicherlich den Widerstand verändern, meinte Dahlbender. CDU-Fraktionschef Peter Hauk forderte die Grünen auf, sich aus dem Aktionsbündnis zurückzuziehen. Hauk sagte der dpa, für die Partei sei die Grundlage für ihr Engagement entfallen.

"Das ist ein großer Schritt in die Bürgergesellschaft"

Kretschmann sagte zur ersten Volksabstimmung seit 40 Jahren in Baden-Württemberg: "Das ist ein großer Sieg für die Demokratie und ein großer Schritt in die Bürgergesellschaft." Davon habe die ganze Republik profitiert. 7,6 Millionen Bürger waren aufgerufen, über den Ausstieg des Landes abzustimmen.

Die Grünen halten eine Modernisierung des Kopfbahnhofs für die bessere und billigere Alternative. Die SPD-Spitze sowie CDU und FDP sehen in dem Bau ein Jahrhundertprojekt, durch das Stuttgart verkehrlich ins Herz Europas rückt. Der Streit hatte sich im Sommer 2010 bei Beginn des Abrisses von Teilen des alten Bahnhofs zugespitzt. Zehntausende gingen gegen das Projekt und die damalige schwarz-gelbe Landesregierung von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) auf die Straße.

Grünen-Chef Cem Özdemir räumte am Abend ein, dass die Abstimmung verloren sei. "Aber die Auseinandersetzung um einen anderen Umgang mit den Bürgern bei Konflikten um Großprojekte werden wir gewinnen", sagte er der "Stuttgarter Zeitung" (Montag). Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagte der Zeitung, eine klare Mehrheit habe offenkundig erkannt, "dass Stuttgart 21 wichtig für das ganze Land ist, Baden-Württembergs Position in Europa befestigt und dafür sorgt, dass dies eine der interessantesten und innovativsten Regionen in der EU bleibt".

Baden-Württembergs Landtagspräsident Guido Wolf (CDU) will den Schwung des Referendums nutzen und für mehr direkte Demokratie sorgen. "Es muss um ein Bündel an Maßnahmen geben, solche Großprojekte transparent zu machen und die Bürgerbeteiligung voranzutreiben", sagte Wolf der dpa.

dpa