Berliner Audioführer: Hören, wie die Geschichte wirklich war
"Hörpol" macht jüdische Alltagsgeschichte hör- und erlebbar - als kostenloser Audioführer zu 27 Orten in der Hauptstadt. Eine ganze Reihe Prominenter hat dabei mitgeholfen.
22.11.2011
Von Thomas Östreicher

Eigentlich ist die Idee ganz simpel. Was jedes halbwegs moderne Museum als (meist kostenpflichtigen) Service für die Besucher bietet, lässt sich auch als sinnlicher Anschauungsunterricht nutzen: eine Audioführung zum Thema jüdische Geschichte, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, die einen Streifzug durch Berlin-Mitte begleitet.

Die simple Idee umzusetzen, war allerdings schon etwas schwieriger. Zwei Jahre war der Berliner Journalist und Autor Hans Ferenz damit beschäftigt, Dutzende ehrenamtlicher Mitarbeiter haben ihn bei der Produktion unterstützt.

Lesungen, Erzählungen, Hip-Hop

Hörpol heißt sein Audio-Projekt, und es führt auf akustischen Wegen zu Straßen und Plätzen, Modeläden und Musikclubs, Cafés und Liegewiesen, entlang dem Ufer der Spree. Es geht um Geheimnisse und Wahnsinn des Alltags, um Lügen, Hass, Verzweiflung und Hoffnung. Erzählt werden Geschichten von Mut und Respekt, von Freiheit, von Liebe.

Isaak Behar (links) wirkte als Zeitzeuge und Opfer der Judenverfolgung an dem Audioprojekt von Hans Ferenz mit. Behar starb 2011 im Alter von 87 Jahren. Foto: Heidi Scherm

Zeitzeugen erzählen aus einer Zeit, als sie so jung waren wie die Jugendlichen heute, berichten aus ihrem Alltag, schwärmen vom ersten Kuss und von ihren Teenager-Träumen – die mit dem Holocaust brutal zerschlagen wurden.

Rock- und Hip-Hop-Bands aus Berlin liefern ihre Musik. Schauspieler, Autoren, Moderatoren und Schüler sprechen Texte: "Tatort"-Kommissar Axel Prahl, ZDF-Nachrichtenfrau Marietta Slomka, der Schauspieler Rufus Beck, der Kabarettist Martin Buchholz und andere. Entstanden ist ein lebendiger Führer zu Orten, deren Geschichte nicht vergessen werden sollte.

Die 27 Audiodateien dauern zwischen zwei und acht Minuten und stehen unter hörpol.de im Internet bereit. Alles, was es für die Nutzung braucht, ist ein mp3-Player oder ein Handy, das auch mp3-Dateien abspielen kann. Dazu gibt es einen Stadtplan mit Kommentaren zu jeder Station, er hilft beim Erstellen einer individuellen Route.

Mal humorig, mal ergreifend

Hörpol richtet sich an Touristengruppen und Schulklassen gleichermaßen wie an einzelne Interessierte, vor allem aber an junge Menschen zwischen 15 und 18 Jahren, die in Berlin wohnen oder die Stadt besuchen. Begleitmaterial finden Lehrer oder Gruppenleiter ebenfalls auf hörpol.de.

Einige der Hörstationen sind hintergründig humorvoll gestaltet, wie die von Axel Prahl eingesprochene Radioshow über den Kondomfabrikanten Julius Fromm, dessen "jüdische Erfindung" den multikulturellen Alltag der Jugendlichen bis heute bereichert. Andere Audioclips schildern massive Brutalität und Demütigungen gegenüber Juden.

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Das Ziel, betont Ferenz, sei es nicht, historische Fakten anzuhäufen, sondern vielmehr den Zuhörer/innen unabhängig vom Bildungsstand ein "erstes Bauchgefühl" zu vermitteln. Zudem soll ein Querschnitt über jüdische Geschichte und jüdische Kultur vermittelt und das Grauen des Nationalsozialismus beschrieben werden. Rechtsradikale Umtriebe in unserer Zeit sind ebenso Thema wie über neue Ideen und Ansätze des Zusammenlebens in einer zunehmend multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft.

Es geht um das "Bauchgefühl"

"Wichtiger Bestandteil des Hörpol-Konzepts ist die selbstbestimmte, freie Nutzung", heißt es auf der von Nachwuchs-Webdesignern professionell gestalteten Internetseite: jederzeit zugänglich, grundsätzlich kostenlos und selbstbestimmt. Das Motto: "Es gibt keinen vorgeschriebenen Weg: Du fängst an, wo du willst. Du entscheidest, wo du langgehst. Du hörst auf, wenn du genug hast."

Für etwa zehn Stationen benötigen Interessierte erfahrungsgemäß ungefähr zwei Stunden Zeit zum Hören und Gehen. Ganz bewusst soll eine der jeweiligen Situation angemessene, unvollständige Auswahl aus dem Angebot getroffen werden, damit erst gar nicht der Eindruck eines zu absolvierenden Arbeitspensums entsteht.

Die Idee zu dem Projekt hatte der Berliner Hans Ferenz bereits vor etlichen Jahren. Doch erst die mp3-Technik und die massenhafte Verbreitung der Abspielgeräte machte das Konzept möglich - ohne erforderlichen Geräteverleih und dank etlicher Sponsoren und öffentlicher Unterstützer für die Nutzer komplett kostenlos.

Englische Version in Arbeit

Für Hans Ferenz (links) freilich war das Projekt ein Zuschussgeschäft. Inzwischen arbeitet er an der vielfach gewünschten englischen Fassung, deren aufwendige Produktion von der Stiftung einer Lotteriegesellschaft gesponsert wird.

Hörpol hat in den gut zwei Jahren seines Bestehens viel angestoßen: Mehrere Tausend Webseitenbesucher im Monat und unzählige Downloads belegen das anhaltende Interesse an dem Angebot, das inzwischen auch über sämtliche Bildungsserver von Bund und Ländern abrufbar ist.

Immer wieder schildern Nutzer, wie sehr die Geschichten und das Konzept sie bewegt haben, und eine Schulklasse in Brandenburg hat die Hörstation "Straßenbahn", die die Deportation von Juden nach Auschwitz und Theresienstadt schildert, gar zu einem Theaterstück verarbeitet.

"Ich dachte, dass das Projekt nach anderthalb Jahren tot ist", sagt Hans Ferenz. Weit gefehlt: Seit Hörpol den Deutschen Bildungsmedien-Preis 2010 erhielt, hat sich das Interesse daran weit über die Berliner Schulen hinaus verbreitet, im In- und Ausland wurde darüber berichtet. Hörpol lebt - und das Interesse an der Geschichte bleibt wach.


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter von evangelisch.de.