Gedanken zur Woche: Ein Brief an die nächste Generation
Über die Krisen an den Finanzmärkten hat nicht das Volk entschieden, sondern die Sorge um den Euro. Was bedeutet das für die Demokratie und für die nächste Generation? Ein geistlicher Impuls von Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx aus Hannover.
18.11.2011
Von Cornelia Coenen-Marx

Hannover Hauptbahnhof vor wenigen Tagen. Jemand drückt mir einen Zettel in die Hand. "Wir sind normale Menschen", lese ich. " Wir sind wie Du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen, zur Arbeit zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die jeden Tag hart arbeiten… Die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- und auch sprachlos." Der Zettel war eine Einladung zur Demonstration der "Occupy-Bewegung". Der Text war aus dem Netz herunter geladen: "Das spanische Manifest" vom 15. Mai 2011.

"Wir leben auf Kosten der nächsten Generation"

Nicht nur in Spanien und Griechenland gehen Menschen in diesen Tagen auf die Straße. Angesichts der Krisen an den Finanzmärkten haben auch bei uns viele das Gefühl, ihre Zukunft wird verspielt. "Wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich um uns herum präsentiert", steht auf meinem Zettel. Am vergangenen Samstag, als Silvio Berlusconi zurücktrat, war diese Mischung aus Wut und Besorgnis auch in Italien mit Händen zu greifen. Eine deutsche Journalistin fühlte sich an die Stimmung auf dem Tahir–Platz in Kairo erinnert. Ein Moment der Reinigung. Die Menschen auf der Straße feierten das Ende einer unwahrhaftigen und korrupten Politik. Einige haben Händels Halleluja gesungen, andere "Mafioso" gebrüllt.

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Manche meinen, mit Politikern dieses Typs habe gleich die Politik abgewirtschaftet. Nun sei die Stunde der Experten und Übergangsregierungen. Aber nicht das Volk hat darüber entschieden, sondern die Märkte, der Druck der Krise, die Sorge um den Euro. Was bedeutet das für die Demokratie? Hat es damit zu tun, dass wir uns gern haben Sand in die Augen streuen lassen? Wer wollte sich schon bewusst machen, dass wir auf Kosten der nächsten Generation leben?

"Wenn wir müde geworden sind, sollt Ihr an unsere Stelle treten"

April 1989. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ökumenischen Versammlung in Dresden schrieben einen Brief an die Kinder. Darin heißt es: "Liebe Kinder, die Erde auf der wir leben, ist bedroht. Schuld daran sind wir, die Erwachsenen. Aber einige haben es doch gemerkt. Wir haben nachgedacht und gebetet und wieder nachgedacht, was zu tun ist." 200 Delegierte aus verschiedenen Kirchen, waren zusammen gekommen - "Mütter und Väter, Großväter und Großmütter, Geschwister und Paten - kurz: Leute, die auch in Eurem Haus wohnen könnten", wie sie schreiben. Es ging ihnen um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.-Sie wussten: die Aufgaben, die vor uns liegen, lassen sich in einer Generation nicht bewältigen.

"Wenn wir müde geworden sind, sollt Ihr an unsere Stelle treten"; heißt es am Ende des Briefes."Das ist eine schwere Aufgabe, auf die man vorbereitet sein muss. Deswegen haben wir Euch von der Versammlung erzählt. Glaubt nicht dass wir alles wissen, aber glaubt, dass wir alles tun wollen."

"Wer unter Euch der erste sein will, der sei Euer aller Diener"

"Glaubt nicht, dass wir alles wissen, aber dass wir alles tun wollen". Die das geschrieben haben, waren keine Politiker und Politikerinnen. Aber sie haben Verantwortung übernommen. Ihre Bescheidenheit und ihre Ehrlichkeit würde man so manchem wünschen, der in Wirtschaft und Politik das Sagen hat. Es ist die Haltung mancher Mächtigen, die Menschen so wütend macht. So mancher kann sich nicht mehr vorstellen, in einem Haus mit den Menschen auf der Straße zu wohnen. Abgeschottete Gipfel, abgehobene Strategien, unvorstellbare Zahlenspiele geben uns das Gefühl, nicht mehr gefragt zu sein. Und Bunga-Bunga-Parties machen den Eindruck, den Mächtigen geht es nur um das eigene Ego. Mancher vergisst offenbar etwas ganz Wesentliches: seine Macht ist endlich.

"Wer unter Euch der erste sein will, der sei Euer aller Diener", hat Jesus gesagt. Und Luther schreibt: " Was nicht im Dienst steht, steht im Raub". Wer politische und wirtschaftliche Verantwortung übernimmt, muss bereit sein, den Menschen zu dienen- über die eigene Zeit hinaus. Das ist eine schwere Aufgabe. Und wer sich ihr ehrlich stellt, braucht unsere Unterstützung.


Oberkirchenrätin Cornelia Coenen-Marx aus Hannover ist Pfarrerin der rheinischen Landeskirche und seit 2007 Sozialreferentin der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD). Die "Gedanken zur Woche" wurden am Freitagmorgen im Deutschlandfunk gesendet.