Moldau: Die wiedererfundene Gemeinde
Fast alle Bessarabiendeutschen haben vor 70 Jahren das Land verlassen. Die wenigen verbliebenen Mitglieder der ursprünglichen evangelischen Gemeinde in Chisinau sind nach dem Zerfall der Sowjetunion ausgewandert. An der Stelle, wo einst die lutherische Sankt-Nikolai-Kirche stand, erhebt sich heute der Präsidentenpalast.
16.11.2011
Von Silviu Mihai (Text) und Dagmar Gester (Fotos)

Doch eine bunte Mischung aus Bulgaren, Moldauern und Ukrainern führt mit großem persönlichem Engagement die deutsche Tradition fort: Vor zehn Jahren wurde die Gemeinde wiedergegründet. In den Kellerräumen eines Plattenbaus feiern Pfarrer Valentin Dragan und die rund 50 Gläubigen von der Deutschen Gesellschaft "Einigkeit" sonntags Gottesdienst – hauptsächlich auf Russisch. Täglich gibt es auch eine warme Mahlzeit für zehn bedürftige Personen aus dem Viertel. Und wer Interesse hat, kann sogar Deutschunterricht bekommen.

Anna Dragan empfängt ihre Gäste im Tiefparterre des Plattenbaus, der schlichte Saal wirkt aufgeräumt, auf den Plastiktischen stehen Kaffee und Kekse. In der moldauischen Hauptstadt ist es noch sommerlich warm. Von der lauten, staubigen Straße aus sehen die Räume eher wie ein kleiner Laden oder wie ein Lokal aus. "Willkommen in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Sankt-Nikolai", erklärt die energische Frau in feierlichem Ton. Sie stolpert manchmal über die deutschen Worte, sie redet schnell, mit einem tiefen osteuropäischen Akzent, sie hat Spaß an der Sprache. Anna Dragan kommt ursprünglich aus einem Bulgarendorf im Süden der Republik Moldau, doch heute ist sie das Herz der Deutschen Gesellschaft "Einigkeit".

Jeden Montag Deutschunterricht

Ältere Paare kommen herein und setzen sich auf Holzbänke und Klappstühle, Männer helfen ihren Frauen dabei, Frauen stützen ihre Männer. An den weißen Wänden hängen Bilder von wichtigen Momenten aus dem Gemeindeleben, etwa von einem Volksfest oder dem Muttertag. In der Ecke steht eine kleine Orgel. Anna Dragan verteilt Gesangbücher für die kurze Andacht vor dem Gemeinschaftstreffen. Von den rund 50 Mitgliedern der Gemeinde sind an diesem Freitagnachmittag nur 15 gekommen. "Wir singen auf Deutsch, wer noch nicht so gut versteht, hat hier die Übersetzung", erklärt die Frau lächelnd und zeigt auf einen Stapel Fotokopien an der Seite des Raums. "Jeden Montag bieten wir aber auch Deutschunterricht, vor allem für die jüngere Generation", fährt sie fort. Gepredigt wird jedoch auf Russisch, denn das ist die Sprache, die alle hier verstehen.

Anna Dragans Mann Valentin ist seit acht Jahren der Pfarrer der Gemeinde – und der einzige evangelische Pfarrer in Chisinau. Seine Muttersprache ist der rumänische Dialekt der Moldauer. Im Alltag spricht er, wie die meisten seiner Landsleute, Russisch, einst Amtssprache auf dem gesamten sowjetischen Gebiet. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung seines kleinen Landes erfuhr Dragan, der früher als Techniker in einer Fabrik arbeitete, Näheres über seine Familie. Dragans Großmutter hieß Sophie Jeworski und ihr Vater – Wilhelm. Sie waren Bessarabiendeutsche. "Erst in den Perestroika-Jahren wurde mir die Geschichte in allen Details erzählt. Kurz darauf habe ich angefangen, Deutsch zu lernen", erinnert sich Dragan.

Der Präsidentenpalast in Chisinau wurde in den 1980er Jahren für das ZK der Kommunistischen Partei errichtet und 1987 eröffnet. gebaut. An gleicher Stelle am Boulevard Stefan cel Mare stand einst die evangelisch-lutherische Sankt-Nikolaikirche. Nachdem die Mehrzahl der Bessarabiendeutschen das Land verlassen hatte, wurde die alte Kirche 1962 abgerissen.

Die Provinz Bessarabien, ein Streifen zwischen den Flüssen Pruth und Dnjestr, gehörte im 19. Jahrhundert zum Russischen Reich, die Zaren freuten sich über die deutschen Siedler, die vor allem aus Württemberg kamen. Die erste evangelische Gemeinde in Chisinau wurde 1827 gegründet, die ursprüngliche Sankt-Nikolai-Kirche elf Jahre später eingeweiht. "Vor dem Zweiten Weltkrieg betrachteten viele Bevölkerungsgruppen Bessarabien als ihre Heimat. Das Gebiet glich einem Flickenteppich, wo sich Juden, Rumänen, Polen, Ukrainer, Deutsche und Roma begegneten", beschreibt der Bukarester Historiker Lucian Boia die Ausgangslage. Doch nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde die Provinz, die seit 1918 ein Teil Rumäniens war, von der Roten Armee besetzt.

1940 gingen sie "heim ins Reich"

Fast alle 100.000 Deutschstämmigen verließen 1940 ihre Häuser und Bauernhöfe und folgten dem offiziellen Aufruf "Heim ins Reich". Dragans Großmutter gehörte zu den ganz wenigen, die damals der Bevölkerungspolitik der Nazis nicht folgte – und zwar nicht, weil sie sich ein Leben in der Sowjetunion wünschte, sondern weil ihr Mann, Feodor Sotirca, in seinem Heimatdorf Floresti bleiben wollte. "Er war Moldauer und es war ihm egal, in welchem Land sein Dorf lag", erinnert sich Dragans Mutter Evghenia. "Im Jahr darauf begann der Krieg, deutsche und rumänische Soldaten fuhren durch den Ort, dann kehrte die rumänische Verwaltung zurück. Mein Vater hatte damals eine Übersetzerstelle beim Rathaus", erzählt die heute 76-jährige Frau.

Laut letzter Volkszählung vor dem Zweiten Weltkrieg waren die meisten deutschsprachigen Bewohner Bessarabiens evangelisch-lutherischer Konfession. Mehr als die Hälfte stammten aus den rund 2.000 württembergischen Aussiedlerfamilien pietistischer Prägung, die am Anfang des 19. Jahrhunderts auf Schiffen die Donau hinuntergefahren sind. Der Rest kam aus Nordostdeutschland und aus Polen. Neben vier katholischen Gemeinden und einer reformierten, zu der vor allem Schweizstämmige gehörten, zählten die Behörden 16 evangelisch-lutherische Pfarrgemeinden. Nachdem Rumänien die Region Bessarabien 1918 anschloss, wurden diese Gemeinden der Evangelischen Landeskirche in Rumänien angegliedert, die ihren Sitz in Hermannstadt (Sibiu) hatte und die traditionelle Kirche der Siebenbürger Sachsen war.

Nach dem Krieg wurde Bessarabien wieder zur Sowjetrepublik Moldau. Feodor Sotirca, seine Frau Sophie und ihre Tochter Evghenia wurden wegen "Verrats" nach Sibirien deportiert. Erst nach Stalins Tod konnte die Familie nach Floresti zurückkehren. "Seitdem sprach meine Mutter kein Wort mehr auf Deutsch. Wir haben es bewusst verdrängt. Heute bin ich zu alt, um es wieder zu lernen", sagt Evghenia Dragan. Die alte Sankt-Nikolai-Kirche wurde geschlossen und später abgerissen, an der Stelle, wo sie einst war, steht heute der Präsidentenpalast.

Religion war im Sowjetreich tabu

Im Februar 2000 wurde die Gemeinde dann allerdings wieder gegründet. "Drei Jahre später wurden wir offiziell anerkannt", erzählt Pfarrer Dragan. "Damals waren wir vielleicht 20 Leute, und nur die ältesten hatten je in ihrem Leben eine evangelische Kirche gesehen oder überhaupt jemals einem Gottesdienst beigewohnt. Zu Sowjetzeiten waren Religion und ethnische Identität entweder Tabu oder wurden einfach nicht thematisiert", erinnert sich der Mann. "Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus begannen viele ehemalige Sowjetbürger, nicht nur bei uns in der Moldau, nach einer neuen Identität zu suchen. Zugehörigkeiten wurden wiederentdeckt – oder wiedererfunden", erklärt Historikerin Diana Dumitru, die an der Staatsuniversität in Chisinau zeitgenössische Geschichte unterrichtet.

Anna Bodnarenko (links) arbeitet seit fünf Jahren als Köchin fuer die evangelisch-lutherischen Gemeinde. Unter der Woche wird der Gemeindesaal zum Speisesaal: Im Rahmen eines Sozialprojektes bekommen täglich eine Reihe von bedürftigen Personen eine warme Mahlzeit, die aus Spenden finanziert wird.

Valentin Dragan wollte immer mehr über seine Familie erfahren und interessierte sich für Theologie. Er wollte evangelisch werden. Heute feiert er jeden zweiten Sonntag um 10 Uhr den Gottesdienst. Zusammen mit seiner Frau fährt er bereits zwei Stunden vorher zu ihrem Tiefparterre, das in einem der anonymen Plattenbauviertel der moldauischen Hauptstadt liegt. Der Saal muss jedes Mal umfunktioniert werden: Valentin und Anna Dragan räumen die Plastiktische weg, reihen die Holzbänke ordentlich hintereinander und bereiten sich für die Zeremonie vor. "Seit sieben Jahren stellen wir Anträge bei der Hauptstadtverwaltung, um ein kleines Grundstück zu bekommen. Dann könnten wir vielleicht mit unseren bescheidenen Mitteln eine kleine Kapelle bauen. Doch bis heute ist nichts passiert", beschwert sich Pfarrer Dragan.

Unter der Woche wird das Tiefparterre zum Speisesaal. Gut zehn Bedürftige aus der Nachbarschaft, vor allem Rentner und Behinderte, bekommen montags bis freitags eine warme Mahlzeit. "Vor ein paar Jahren hatten wir genug Geld für 20 Leute, doch die Kosten von Energie und Lebensmittel sind mittlerweile dermaßen gestiegen, dass wir es nicht mehr schaffen", sagt Anna Dragan, die 2005 die Idee für dieses kleine Sozialprojekt hatte. Seitdem ist Anna Bodnarenko die Küchenfee der Gemeinde. Sie zaubert jeden Tag aus den wenigen verfügbaren Zutaten mehrere Gerichte: Mal einfach Reis, mal Pelmeni, die traditionellen russischen Teigtaschen, mal Mamaliga, eine Art fester Brei aus Maisgrieß, den viele Rumänen und Moldauer lieben.

Das ärmste Land Europas

"Hauptsache billig und füllend", lacht Anna Dragan. Obwohl die Gemeinde unablässig Spenden sammelt, lassen sich das Sozialprojekt und die wenigen weiteren Veranstaltungen auf diese Weise nicht finanzieren. Gilt doch die Republik Moldau mit einem monatlichen Durchschnittslohn von 150 Euro nach wie vor als ärmstes Land Europas. "Viele unserer Mitglieder sind ältere Leute, die von einer Rente von 80 Euro im Monat leben müssen. Sie können nur Kopeken spenden", erzählt die Frau des Pfarrers, die vor sechs Jahren auch eine Lösung des Problems gefunden hat: Die warme Mahlzeit wird nicht nur bedürftigen Personen angeboten, sondern auch anderen Gästen, die sich einen kleinen Beitrag leisten können.

Das Modell hat eine Weile gut funktioniert: Der Speisesaal war gut besucht, denn die niedrigen Preise hatten eine Stammklientel aus dem Viertel angezogen. Doch in den letzten Jahren hat sich mit der Wirtschaftskrise die immer schon schwierige Lage der Moldauer weiter verschlechtert. "Wir haben es gerade nicht leicht, aber das ist nicht Sibirien. Unsere Eltern haben schon schwierigere Zeiten erlebt", sagt Anna Dragan zuversichtlich. Sie muss bald gehen: Ein Fahrer wartet vor der Tür mit der Lieferung für die nächste Woche.


Silviu Mihai arbeitet als Osteuropa-Korrespondent in Berlin, Dagmar Gester ist Fotojournalistin.