Als Jubel losbricht, löst sich die Anspannung bei Annette Kurschus. Berührt und bewegt sei sie, sagt die 48-jährige Theologin, den Tränen nahe. Mit 143 von 182 Stimmen ist die Siegener Superintendentin am Mittwochvormittag von der Landessynode in Bielefeld-Bethel als erste Frau an die Spitze der Evangelischen Kirche von Westfalen gewählt worden.
Kurschus versteht sich in erster Linie als Pastorin und Seelsorgerin - und macht dies gleich nach ihrer Wahl deutlich: In der Zuversicht, dass Gott mitgeht, wolle sie mit den Menschen ihrer Kirche unterwegs sein, "und das wird ein verheißungsvolles Unternehmen". Das Spitzenamt der viertgrößten deutschen Landeskirche will Kurschus "nicht im Sinne von Management führen" - Präses sei ein Hirtenamt.
Einladung an Nicht-Gläubige
Trotz sinkender Mitgliederzahlen hält die künftige Präses am Konzept der Volkskirche fest. "Man kann auch grundsätzlich dazu gehören, ohne zu glauben - der Glaube sollte nicht die Eintrittskarte sein", sagte sie nach ihrer Wahl dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Sonst schließen sich viele Türen für Begegnungen mit Menschen, die jetzt offen sind - etwa bei Tauf- oder Traugesprächen."
Gleichwohl werde es in den kommenden Jahren ein Umdenken in den Kirchengemeinden geben müssen, äußerte die bisherige Siegener Superintendentin. "In Zukunft wird nicht mehr jedes Gemeindeglied davon ausgehen können, dass es zu Fuß zur Kirche gehen kann." Die Pfarrer müssten künftig verstärkt Multiplikatoren sein, die ihr Know-how weitergeben an andere Berufsgruppen und an Ehrenamtliche: "Wir brauchen ein Miteinander der Professionen. Nur gemeinsam geht es."
Die Arbeit von Ehrenamtlichen will Kurschus erleichtern. Als weitere wichtige Aufgabe nannte sie, die Kompetenzen innerhalb der Landeskirche besser zu vernetzen und aufeinander zu beziehen. Auch die missionarischen Aufgaben müssten besser wahrgenommen werden: "Wir haben eine Botschaft, die wir uns nicht selbst sagen können und nicht selbst sagen müssen, die aber in dieser Welt gebraucht wird." Vermittelt werde sie nicht nur durch Gottesdienste und Andachten, sondern auch durch soziales, diakonisches und politisches Engagement.
Schon ihr Vater war Pastor
Geboren wird Kurschus am 14. Februar 1963 in Rotenburg an der Fulda, sie wächst im hessischen Obersuhl auf. Als sie sieben ist, zieht ihre Familie nach Siegen. Kirche kennt sie da schon intensiv von innen, weil bereits ihr Vater Pastor war. Nach Beginn eines Medizinstudiums, das ihr zu verschult ist, studiert sie evangelischn Theologie in Bonn, Marburg, Münster und Wuppertal.
Der westfälische Präses Alfred Buß (Mitte) mit seiner Nachfolgerin Annette Kurschus (rechts) und deren unterlegener Gegenkandidatin Angelika Weigt-Blätgen. Foto: epd-bild
In Siegen macht Kurschus zunächst ihr Vikariat und wird 1993 Gemeindepfarrerin. Im Kirchenkreis Siegen wird die Theologin, die bis heute ledig ist und keine Kinder hat, 2001 zur stellvertretenden Superintendentin und vier Jahre später zur Superintendentin gewählt. Seit 2008 leitet Kurschus den Ständigen Theologischen Ausschuss der westfälischen Kirche, seit 2002 gehört sie dem Leitungsgremium des Reformierten Bundes an und seit 2003 dem Liturgischen Ausschuss der Union Evangelischer Kirchen (UEK). Sie ist auch ständiger Gast in der Vollkonferenz der UEK.
Weltfremd ist Kurschus, die nun aus dem pietistischen Siegerland an den Sitz der Landeskirche in Bielefeld wechselt, indes nicht. "Die Kirche, für die ich stehe, ist fromm und politisch zugleich", sagt sie. Glaube sei keine Privatsache, sondern "will in die Welt". Allerdings dürfe die Kirche die Quelle ihres Handelns nicht verschweigen, wenn sie sich an die Seite der Armen und Benachteiligten stellt und für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einsetzt.
Aus der Kirche keine Werte-Agentur machen
Richtschnur ist für Kurschus stets die biblische Botschaft. Die Kirche dürfe keine betriebsame Werte-Agentur sein, die für alle persönlichen Fragen des Lebens die passenden Antworten weiß, findet sie. "Es ist ebenso wenig unser Auftrag, für jedes politische Problem die richtige ethische Handlungsweise vorzugeben oder den korrekten Standpunkt." Als Präses wolle sie vielmehr immer dann den Mund auftun, "wenn das vom Evangelium her geboten ist".
Die bisherige Superintendentin an der Spitze des evangelischen Kirchenkreises Siegen gilt als einfühlsame und brillante Rednerin. Ein Ruf, den sie zu Wochenbeginn mit einer flammenden und humorvollen Bewerbungsrede vor der Landessynode in Bielefeld-Bethel untermauerte - immer wieder unterbrochen von spontanem Beifall.
"Konzentriert auf das Eigentliche"
Die Probleme, vor denen die knapp 2,5 Millionen Mitglieder zählende westfälische Kirche steht, redet Kurschus nicht schön. Es werde künftig weniger Mitglieder, weniger Kirchen, weniger Geld und auch weniger Pfarrer geben, sagt sie nüchtern. Die Kirche gehe davon aber nicht unter, sondern werde weiter "die Botschaft verkünden, von der die Welt lebt". Am Ende ihrer achtjährigen Amtszeit stellt sie sich die westfälische Kirche so vor: "Kleiner, das Kleid passt, aufrecht, stark, immer noch Volkskirche und konzentriert auf das Eigentliche."
Kurschus' zweite Liebe neben der Theologie gehört der Musik, ihrer "schönsten und wichtigsten Nebenbeschäftigung". Seit dem achten Lebensjahr spielt sie Cello. Weitere Hobbys sind Walking, Theater und Kino. Dass mit ihr nach sieben Männern nun erstmals eine Frau an die Spitze der westfälischen Kirche gewählt wurde, findet Kurschus nicht spektakulär: "Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit und jetzt einmal dran."