Alle Straßen um das Riesen-Zelt auf dem Gelände der Polytechnischen Universität im Westen Kabuls sind weiträumig abgesperrt. Wenn am Mittwoch die Große Ratssitzung, die Loja Dschirga, beginnt, herrscht höchste Alarmstufe in Afghanistans Hauptstadt. Denn mehr als 2.000 Teilnehmer kommen zu der viertägigen Versammlung zusammen, um über eine Strategie für einen Frieden mit den Taliban zu beraten. Auch über einen möglichen Verbleib von US-Militärstützpunkten auf afghanischem Boden nach dem Truppenabzug sollen die Stammesältesten, Religionsführer und Politiker aus dem ganzen Land diskutieren.
Kabul ist in den vergangenen Monaten zunehmend zum Schauplatz spektakulärer Terroranschläge der Taliban geworden. In der Nähe des Tagungszeltes erschossen Sicherheitskräfte am Montag einen mutmaßlichen Selbstmordattentäter. Die Polizei nahm zudem zahlreiche Verdächtige fest. Die Angst vor Anschlägen wächst: Die Taliban haben erklärt, im Besitz des streng geheimen Sicherheitsplanes für den Schutz der Loja Dschirga zu sein. Afghanische Stellen und die NATO in Afghanistan dementierten dies zwar, doch Zweifel bleiben.
Verwirrung über den Sinn des Treffens
Die Taliban haben Angriffe auf das Treffen angekündigt. Im vergangenen Jahr attackierten die radikal-islamischen Aufständischen die Loja Dschirga bereits mit Raketen und Selbstmordkommandos, gerade als Präsident Hamid Karsai die Delegierten feierlich begrüßte. Die Versammlung wurde früher beendet als vorgesehen.
Doch die Dschirga stößt nicht nur bei radikalen Kräften auf Kritik. Das Mandat des Treffens ist nicht ganz klar. Kritiker sehen den Rat als Instrument von Präsident Karsai. Denn anscheinend soll die diesjährige Versammlung nur beratenden Charakter haben. Doch laut Verfassung sind die Treffen, die sich an eine jahrhundertealte Stammestradition der Paschtunen anlehnen, "höchste Willensbekundung des afghanischen Volkes". Entscheidungen des Großen Rates sind bindend.
Dschirga-Sprecherin Safi Siddiqui erklärte, die Beschlüsse der Delegierten seien "allgemeine Ratschläge" an die Regierung, die schließlich die Entscheidungen treffen werde. Dies sorgt nun allgemein für Verwirrung. Selbst einige Teilnehmer der Versammlung räumen ein, den Sinn dieses Treffens nicht zu erkennen.
Wenig Hoffnung auf eine Einigung mit den Taliban
Aufgabe der Loja Dschirga soll es unter anderem sein, eine Strategie für Friedensgespräche mit den Taliban zu finden. Die Verhandlungen sollen den Weg für ein Ende des mehr als zehn Jahre währenden Krieges bereiten und die Weichen für einen Abzug der NATO-Kampftruppen nach 2014 stellen. Doch wie verfahren die Situation ist, zeigt sich schon daran, dass die Aufständischen, mit denen verhandelt werden soll, die Versammlung als "Sklaven-Dschirga" verspotten und geschworen haben, den Rat und die einzelnen Teilnehmer als "Volksverräter" anzugreifen.
Im September war Afghanistans oberster Verhandlungsführer mit den Taliban, Burhanuddin Rabbani, in seinem Haus in Kabul getötet worden. Der Täter hatte sich als Gesandter aus dem engen Kreis um Taliban-Führer Mullah Omar ausgegeben, der angeblich eine Friedensbotschaft an Rabbani überbringen wollte. Danach hatte Präsident Karsai alle Gespräche über Frieden mit den Aufständischen auf Eis gelegt.
Doch selbst Rabbani, ein Religionslehrer und Ex-Präsident des Landes, hatte zum Schluss kaum noch Hoffnung, ein Friedensabkommen mit den aufständischen Taliban erreichen zu können. Dass die diesjährige Zusammenkunft daran viel ändert, ist nicht zu erwarten. Da die Veranstaltung nur eine beratende Funktion haben soll, dürfte es angesichts der Sicherheitslage in Kabul bereits als Erfolg gelten, wenn die Loja Dschirga überhaupt stattfindet.