Als die Bibel einem Soldaten das Leben rettete
Am Volkstrauertag wird der Toten der Weltkriege im 20. Jahrhundert gedacht. Zu einem Sinnbild der Schrecken des Ersten Weltkriegs (1914-1918) wurde das französische Verdun, wo es zu jahrelangen Stellungskämpfen mit hunderttausenden Toten kam. Dem deutschen Infanteristen Kurt Geiler rettete einen Bibel unter dem Kopfkissen das Leben. Die sogenannte "Granatenbibel" ist heute Teil des europaweiten Portals Europeana, das private Erinnerungsstücke aus dem Weltkrieg archiviert.
11.11.2011
Von Christoph Roch

Geiler schlief tief und fest, als die Granate einen Schützengraben vor Verdun traf. Sie bohrte sich in den Unterstand, den deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg für den Stellungskampf im Nordosten Frankreichs angelegt hatten. Über Geiler brach das Inferno aus. Stützbalken zerbarsten, Erde und Dreck krachten herunter. Schlaftrunken rettete sich der 23-Jährige ins Freie. Überall lagen Tote und Verwundete, aus dem Unterstand ertönten die Schreie der Verschütteten. Nur Geiler blieb unverletzt. Später, als er seine Habseligkeiten in den Trümmern zusammensuchte, fand er auch seine Bibel wieder. Ein Granatsplitter, groß wie eine Kinderhand, hatte sich in das Buch gebohrt. Wie immer hatte Geiler das Buch zum Schlafen unter seinen Kopf gelegt. Das hatte ihm das Leben gerettet. Das war 1917.

Ein europaweites Archiv

Seit kurzem sind Fotos der Bibel und die Geschichte der Rettung des Infanteristen Geiler in dem Portal www.europeana1914-1918.eu zu finden. Mit dem im März gestarteten Projekt "Erster Weltkrieg in Alltagsdokumenten" will die europäische digitale Bibliothek Europeana die privaten Erinnerungen von Menschen aus verschiedenen Nationen an diese "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" sichern und öffentlich zugänglich machen. "Jeder, der persönliche Erinnerungstücke an die Zeit zwischen 1914 und 1918 besitzt, ist eingeladen, sich am Aufbau dieses digitalen europäischen Archivs zu beteiligen", sagt Frank Drauschke von dem Historical Research Institute Facts & Files in Berlin. Gesucht und erfasst werden: Feldpostbriefe, Orden, Tagebücher, Fotos, Filme, Tonaufnahmen und die dazugehörigen persönlichen Geschichten.

Die Idee stammt von der Oxford University, die 2008 in Großbritannien dazu aufrief, das Great War Archive um private Exponate zu ergänzen. Europeana will das Archiv nun bis 2014, zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns, um weitere zehn am Ersten Weltkrieg beteiligte Länder wie Belgien, Frankreich, Österreich oder Italien erweitern. Finanziert wird das Projekt aus Mitteln der EU und der beteiligten Länder. "Die Resonanz in Deutschland seit März hat bisher alle Erwartungen übertroffen", sagt Frank Drauschke. An acht Aktionstagen folgten von Frankfurt bis Regensburg Hunderte Menschen dem Aufruf und ließen persönliche Erinnerungsstücke in den beteiligten Bibliotheken erfassen. "Manche kamen mit einem Stück, andere mit ganzen Kisten", berichtet Drauschke.

Ein kollektives Gedächtnis

Mehr als 24.000 digitale Aufnahmen wurden angefertigt. Parallel ließen sich zusätzlich über 550 Nutzer registrieren, die selbstständig Materialien für das Portal einstellten. "Ingesamt haben wir derzeit rund 27.000 digitale Aufnahmen von Objekten aus dem Ersten Weltkrieg", sagt Drauschke. Die Bandbreite reicht von Entlassungspapieren über Frontfotos, selbst gemalten Postkarten, einer Art Gepäckanhänger, mit dem Verwundete als "transportfähig" oder "nicht transportfähig", was einem Todesurteil gleichkam, klassifiziert wurden, bis hin zu der lebensrettenden Bibel.

"Mein Vater war schon als frommer Mann in den Krieg gezogen", erinnert sich Gottfried Geiler, der Sohn des Infanteristen Kurt Geiler, heute in Leipzig. Dass die Bibel ihn "im wörtlichen Sinne rettete", habe ihn natürlich darin bestärkt, auch wenn er später noch zwei Mal verwundet werden sollte, davon ein Mal schwer.

Nachdem Waffenstillstand im November 1918 machte sich Kurt Geiler zu Fuß von Frankreich auf den Heimweg in das sächsische Waldheim. Dort kam er Anfang 1919 an, heiratete, zog nach Leipzig, gründete eine Familie und arbeite als Sparkassenbeamter. Die Bibel mit dem Granatsplitter bewahrte er eingeschlagen in dickes Packpapier zeitlebens im Schreibtisch auf. Seit dem Tod der Eltern verwahrte Sohn Gottfried die Bibel in einem Schrank im Arbeitszimmer in Leipzig. Dass sie und diese Geschichte seines Vaters durch das Internetportal nun zum Teil eines europäischen kollektiven Gedächtnisses geworden ist, findet der 83-Jährige großartig.

epd