Organspende: Gewissensfrage auf der Intensivstation
Wenn Menschen sich zu Lebzeiten nicht über ihre Einstellung zur Organspende äußern, müssen im Ernstfall die Angehörigen über ihren Willen mutmaßen. Die ergreifende Geschichte einer Frau, deren Bruder unerwartet starb – und die unter Schock und in tiefer Trauer eine schwere Entscheidung fällen musste.
11.11.2011
Von Linda Matthey

Die Hand ihres Bruders, die Marita Donauer hält, ist warm und als sie ihn umarmt, spürt sie, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt – doch Maritas Bruder ist tot. Lediglich die Maschinen sorgen dafür, dass er weiter atmet. Die vielen Dinge, die Marita ihm gerne noch sagen würde, hört er nicht mehr. Und die eine Frage, die im Raum steht und die sie ihm gerne stellen würde, kann er nicht beantworten: Will er seine Organe spenden oder nicht? Diese Entscheidung wird sie für ihn treffen müssen.

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Karl war Maritas großer Bruder. Vater zweier Kinder, Zollbeamter mit zwei großen Leidenschaften: dem 1. FC Kaiserslautern (1. FCK) und Irland. In einem kleinen Ort bei Kaiserslautern sind die beiden aufgewachsen und geblieben. Hier sitzt Marita in ihrem Wohnzimmer und erzählt, wie es dazu kam, dass sie vor fünf Jahren eine Entscheidung treffen musste, die eigentlich nicht ihre war.

Mitten in der Nacht riss das Handyklingeln sie aus dem Schlaf

Mitten in der Nacht, in einem Hotelzimmer in Rom, riss der Klingelton von Maritas Handy sie und ihren Mann aus dem Schlaf.  Marita konnte die Lebensgefährtin des Bruders verstehen, obwohl es ihr Mann war, der sich das Handy ans Ohr hielt: "Der Karl stirbt!" Der damals 46-jährige hatte ein unentdecktes Hirn-Aneurysma, das plötzlich brach und zu Hirnblutungen führte. Karls Lebensgefährtin stand unter Schock. Aufgelöst berichtete sie, wie die Ärztin aus der Notoperation gekommen sei, wild mit Papieren fuchtelte und sagte: "Ihr Partner wird sterben, heute oder morgen." Dieser harten Diagnose schob sie hinterher: "Haben Sie sich eigentlich schon mal Gedanken über Organspende gemacht?" Karls Lebensgefährtin empfand diese hektische Frage wie einen Schlag ins Gesicht.

Als Marita mit dem ersten Flieger aus Rom zurück und im Krankenhaus angekommen war, ärgerte sich der Oberarzt über das übereilte Verhalten seiner Kollegin. "Wir schauen jetzt erstmal, ob wir Ihren Bruder retten können, dann sehen wir weiter." Doch Karl war nicht mehr zu retten. Zwei Ärzte stellten unabhängig voneinander und im Abstand von zwölf Stunden seinen Hirntod fest – und Marita musste sich entscheiden. Denn Karl war mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet, seine Kinder minderjährig und die Mutter schwer demenzkrank. Deshalb lag die Entscheidung bei seiner Schwester, so sieht es das Transplantationsgesetz vor.

"Hätte ich bloß mal mit ihm über Organspenden gesprochen"

Über vieles hat Marita mit ihrem Bruder gesprochen. Sie redeten über die schwer pflegebedürftige Mutter, stritten sich über Politik – doch um die Haltung zur Organspende ging es nie. Seine Autonomie bedeutete Karl alles. "Fremdbestimmt zu sein, war für ihn eine Horrorvorstellung", erinnert sich Marita.

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Und jetzt sollte sie plötzlich über seine Organe verfügen. "Hätte ich bloß mal mit ihm über Organspenden gesprochen", ärgert sie sich, "dann hätte ich nicht den Eindruck gehabt, ihn zu entmündigen." Doch die Frage stand im Raum und "nicht zu entscheiden wäre auch eine Entscheidung gewesen – die gegen die Organspende."

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Marita überlegte, dass Karl immer sehr mitfühlend war und hilfsbereit. Sie beriet sich mit seiner Ex-Frau und seiner Lebensgefährtin. Und sie entschied sich – für die Organspende. Marita hatte das Gefühl, das Richtige zu tun, denn es passte zu ihrer Erziehung. "Unser Vater hat immer gesagt: Letztlich zählt nicht, über was ihr geredet, sondern was ihr getan habt."

Karl nach der Organentnahme noch einmal zu sehen, war wichtig für sie

Marita ist sicher, dass die Ärzte mit allen Mitteln versucht haben, ihren Bruder zu retten und ihn nicht vorschnell aufgegeben und stattdessen an die Organempfänger auf der Warteliste gedacht haben. Sie ist auch sicher, dass das nicht mehr ihr Bruder war, der dort im Bett lag, sondern ein lebloser Körper, auch wenn er immer noch atmete. Doch als der Oberarzt anfing, ihr die Liste an Organen vorzulesen, die er Karl gerne entnehmen würde, schnürte sich Marita der Hals zu. Noch heute schüttelt sie den Kopf, hält sich die langen, schmalen Finger vor den Mund und atmet schwer. "Ich konnte mir das einfach nicht anhören." Dennoch blieb sie bei ihrer Entscheidung, ließ protokollieren, dass die Ärzte Karl alles entnehmen dürften, was für eine Spende geeignet ist und fuhr nach Hause. Dort legte sich Marita ins Bett, weinte und fand kaum Schlaf.

Im gleichen Augenblick setzten die Ärzte im Krankenhaus bei Karl erneut das Skalpell an und entnahmen ihm sein Herz, seine Nieren, seine Lunge und die Augen. Später versorgten sie seine Wunden, zogen ihm ein OP-Hemd an und füllten die leeren Höhlen in seinem Gesicht mit Glasaugen. Am nächsten Tag fuhr Marita ins Krankenhaus und sah ihren Bruder ein letztes Mal. Diesmal hatte Karl aufgehört zu atmen und sah nicht mehr aus, als ob er nur schlief. Diese Begegnung war für sie enorm wichtig, "denn erst dann ist der Tod wirklich real da und man kann sich mit ihm auseinandersetzen."

"Falls du es wirklich nicht gewollt hast, wirst du mir verzeihen"

Bereut hat Marita ihre Entscheidung nie. Nur einmal beschlichen sie Zweifel, als andere sie fragten: "Und was, wenn Karl es doch nicht gewollt hätte?" Da ging sie zu seinem Grab, führte in Gedanken ein Zwiegespräch mit ihm und kam zu dem Schluss: "Falls du es wirklich nicht gewollt hast, dann weißt du trotzdem, dass ich mit bestem Wissen und Gewissen entschieden habe und wirst es mir verzeihen."

Und dann kam dieser denkwürdige 13. Mai 2006. Der 1. FC Kaiserslautern stieg ab, Maritas Mann "war deshalb auf 180 und die ganze Nachbarschaft tobte". In dieser Aufregung kam die Briefträgerin mit Post von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Marita setzte sich und las von dem Mann, der jetzt Karls Herz in sich trägt. Von einem Weiteren, der mit Karls Lunge atmet. Von zwei Menschen, die dank Karls Nieren nicht mehr an die Dialyse müssen und von einem 46-jährigen Mann und einer 53-jährigen Frau, denen Karls Hornhäute ihr Augenlicht wiedergaben.

"Plötzlich empfand ich diese Spende als Geschenk an mich. Denn Karls trostloser Tod ergab so doch noch einen Sinn." Marita fuhr zum Friedhof, setzte sich auf die Grabfassung und sagte: "Ich hab’ zwei Nachrichten für dich. Eine gute und eine schlechte. Die schlechte zuerst: Der FCK ist abgestiegen. Du glaubst nicht, was bei uns los ist!" Sie schaute herunter zur stillen Erde und sagte: "Ich bin so stolz auf dich, denn jetzt kommt die gute Nachricht", zog den Brief aus ihrer Tasche und fing an vorzulesen.


Linda Matthey ist freie Journalistin und lebt in Mainz.